Heft 4/2023

  • Kristina Milz, Genese eines Feindbilds. Der jüdische Sozialdemokrat Max Süßheim und seine Gegner (Aufsatz) -  Ins Heft gezoomt, Artikel Süddeutsche Zeitung
  • Julika Badstieber-Waldt, Zwischen Wehrmachtgemeinde und Gefängniszelle. Der Wehrmachtpfarrer Otto Gramann im besetzten Belgien/Nordfrankreich 1940 bis 1944 (Aufsatz) - Artikel Welt am Sonntag
  • Patrick Bernhard, Die ausgebliebene Ahndung. Nationalsozialistische Verbrechen an Tu­­­ber­ku­­lo­sekranken, westdeutsche Strafverfolgung und die Konstruktion von „Nor­malität“ nach 1945 (Aufsatz)
  • Philipp Glahé, NS-Kontinuitäten oder persönliche Mythenbildung? Der Physiker Léon Grünbaum und das Kernforschungszentrum Karlsruhe zwischen antifaschistischer Atomkritik und Erinnerungspolitik (Aufsatz)
  • Marco Caviglia/David Di Consiglio/Amedeo Osti Guerrazzi, Die „schwarze Pantherin“ vor Gericht. Kollaboration und Judenverfolgung in Rom im Spiegel italienischer Prozessakten (Dokumentation)

 

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Abstracts

Kristina Milz, Genese eines Feindbilds. Der jüdische Sozialdemokrat Max Süßheim und seine Gegner

 

Im frühen Stürmer ist der Nürnberger Max Süßheim (1876–1933) omnipräsent: Mitte der 1920er Jahre kam kaum eine Ausgabe des Hetzblatts ohne den Sozialdemokraten als Motiv aus, der als An­walt zu den frühen Gegnern des Nationalsozialismus gehörte. Als Politiker hatte Süßheim zuvor eine wichtige Rolle in der Revolution von 1918/19 gespielt; bis heute ist er der letzte jüdische Landtagsabgeordnete Bayerns geblieben. Wie konnte eine solche Figur sogar in ihrer eigenen Partei in Vergessenheit geraten? Kristina Milz verortet den jüdischen Sozial­demo­kraten bürgerlicher Herkunft im vor- und frühdemokratischen Bayern und legt dabei die iden­titäts­zentrierte Argumentationslogik seiner Gegner offen, die Süßheim von links wie rechts stets auf seine Herkunft zurückwarf.

 


Julika Badstieber-Waldt, Zwischen Wehrmachtgemeinde und Gefängniszelle. Der Wehrmachtpfarrer Otto Gramann im besetzten Belgien/Nordfrankreich 1940 bis 1944

 

Obwohl die Geschichte der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg intensiv erforscht worden ist, gibt es immer noch weiße Flecken, zu denen auch die Rolle der Wehrmachtseelsorger im deutsch besetzten Europa gehört. Julika Badstieber-Waldt nimmt sich dieses Themas am Bei­spiel des österreichischen Wehrmachtoberpfarrers Otto Gramann an, der zwischen 1940 und 1944 in Belgien/Nordfrankreich eingesetzt war. Ihr Aufsatz zeigt, wie sich die Rolle der Wehr­macht­­pfarrer mit zunehmender Dauer der Besatzung veränderte und immer mehr an Kom­plexi­tät gewann. Während die Wehrmachtseelsorge ursprünglich ausschließlich für deutsche Sol­da­ten gedacht war, waren in den westlichen Besatzungsgebieten rasch auch Häftlinge und zum To­de Verurteilte zu betreuen. Anhand von eindrucksvollen Quellen aus Gramanns Nachlass zeich­net Julika Badstieber-Waldt dessen Tätigkeit zwischen Militär­ge­meinde und Ge­fäng­nis­zel­le nach, die in der Nachkriegszeit erstaunliche Beachtung fand.

 


Patrick Bernhard, Die ausgebliebene Ahndung. Nationalsozialistische Verbrechen an Tu­­­ber­ku­­lo­sekranken, westdeutsche Strafverfolgung und die Konstruktion von „Nor­malität“ nach 1945

 

Zu den wenig beachteten Opfern der NS-Diktatur gehören tuberkulosekranke Menschen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Fälle von gezielter Patientenvernachlässigung, physischer Gewalt und schließlich Mord nach 1945 juristisch nicht belangt wurden, soweit es deutsche Opfer be­traf. Patrick Bernhard fragt nach den Gründen dafür und zeigt auf der Basis neu erschlossener Quellen, dass dies mit dem Unwillen zusammenhing, Verbrechen zu ahnden, die nicht in Kon­zentrationslagern oder als genuin nationalso­zialistisch begriffenen Institutionen begangen wor­den waren. So kann man das Vorgehen der beteiligten Juristen als erfolgreichen Versuch be­greifen, den Nationalsozialismus und die in seinem Namen begangenen Verbrechen ein­zu­he­gen und sie auf bestimmte Tatkomplexe, Täter und Tatorte zu begrenzen. Der Aufsatz ver­weist damit auch darauf, wie in der westdeutschen Gesellschaft „Normalität“ konstruiert wurde.

 


Philipp Glahé, NS-Kontinuitäten oder persönliche Mythenbildung? Der Physiker Léon Grünbaum und das Kernforschungszentrum Karlsruhe zwischen antifaschistischer Atomkritik und Erinnerungspolitik

 

2012 geriet das Karlsruher Institut für Technologie in die Schlagzeilen, als öffentlich bekannt wur­de, dass der Jurist Rudolf Greifeld, von 1956 bis 1974 Geschäftsführer des Kern­for­schungs­zent­rums Karlsruhe (KfK), als Ehrensenator der Universität geführt wurde. 1975 hatte es um Greifeld einen Skandal gegeben, als der ehemalige KfK-Mitarbeiter Léon Grünbaum mit Beate und Serge Klarsfeld einen antisemitischen Vermerk Greifelds aus dem Jahr 1941 öffentlich ge­macht hatte. In einem nie publizierten Manuskript un­tersuchte Grünbaum die personellen Kon­tinuitäten der deutschen Kernforschung und warf Greifeld vor, ein untergetauchter NS-Ver­brecher zu sein. Die Vorwürfe wurden wis­sen­schaft­lich mehrfach widerlegt, was in der öffentlichen Debatte in Karlsruhe jedoch nahezu unbeachtet blieb.

 


Marco Caviglia/David Di Consiglio/Amedeo Osti Guerrazzi, Die „schwarze Pantherin“ vor Gericht. Kollaboration und Judenverfolgung in Rom im Spiegel italienischer Prozessakten

 

Celeste Di Porto erlangte als „schwarze Pantherin“ traurige Berühmtheit. Die junge Jüdin aus Rom hatte sich 1944 einer Gruppe italienischer Kollaborateure angeschlossen, die in der Ewigen Stadt untergetauchte Jüdinnen und Juden aufspürten, an die deutschen Besatzer ver­rie­ten und dafür Kopfgeld kassierten. Im Mittelpunkt der Dokumentation steht das Urteil, das ein Schwurgericht 1947 in Rom gegen Celeste Di Porto und ihre Spieß­ge­sellen g­efällt hat. Aus diesem Urteil, das exemplarisch für einen in der deutschen Forschung weit­ge­hend unbekannten Quellenbestand steht, lassen sich die Vorgehensweisen der Gruppe um die „schwar­ze Pantherin“ ebenso rekonstruieren wie die Mechanismen der Zusammenarbeit zwi­schen der deutschen Vernichtungsbürokratie und ihren willigen italienischen Helfern. Zudem wirft das Urteil ein Schlaglicht auf den Umgang der italienischen Nachkriegsgesellschaft mit Faschismus, Kollaboration und Judenverfolgung.

 



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