Demokratie. Versprechen - Visionen - Vermessungen.

Eine Vorlesungsreihe des IfZ

Um die Demokratie wird seit einigen Jahren erbittert gestritten. Erschien noch vor nicht allzu langer Zeit vielen der Siegeszug der aufklärerischen Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Welt unaufhaltsam zu sein, werden heute in den Kernländern der europäischen und amerikanischen Demokratien Zweifel an der Legitimität demokratisch verfasster Staaten laut vernehmlich geäußert. Die Demokratiekritik kommt von rechts wie von links, und sie mobilisiert die Massen. Die Demokratie hat ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt.

Historische Argumente werden dabei allenthalben bemüht, ohne dass sie notwendiger Weise einer historischen Prüfung standhalten. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist indes voll von Versprechen, Visionen und Vermessungen der Demokratie, die bis in die Gegenwart wirken und ohne die die aktuellen Debatten kaum zu verstehen sind. Die Geschichte der Demokratie zeigt die so unterschiedlichen Visionen, die sich mit dem Traum von der Demokratie verbanden. Sie legt die Ambivalenzen der demokratischen Versprechen frei. Nicht zuletzt führt sie die Vielschichtigkeit vor Augen, die aus der Vermessung und Einpassung dieser Visionen und Versprechen in die administrative Praxis des Staates, genauso wie in das soziale Gefüge ungleicher Lebenswelten resultierten.

Die Vorlesungsreihe entfaltet ein breites Panorama der Geschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert. Die zwölf Vorträge werfen neue Perspektiven auf die Demokratiegeschichte, betrachten die Entwicklung der Demokratie in der longue durée der Zeitgeschichte und diskutieren historiographische Ansätze und Kategorien. Sie entfalten ganz unterschiedliche zeithistorische Blicke auf die Demokratie und bringen nationalgeschichtliche wie transnationale und globale Zugänge miteinander ins Gespräch.

Die Vorträge finden im Institut für Zeitgeschichte München–Berlin in München statt und werden zugleich über ein Zoom-Webinar gestreamt.

Bisherige Vorträge

Wintersemester 2023/24

11. Oktober 2023: Robert Saunders (London)

Democracy in Crisis: Brexit and the British Constitution, 2016–19

Brexit both exposed and accelerated a crisis in British democracy. The referendum in 2016 was only the third nationwide referendum in UK history, marking a new form of democratic decision-making. For 17.4 million Leave voters – the largest coalition ever assembled in a democratic vote in Britain – Brexit was a moment of democratic renewal: a chance to ‘take back control’ from an anti-democratic elite. But the task of delivering Brexit strained Britain’s democratic institutions to breaking point, bringing different visions of democracy into collision and triggering an unprecedented assault on its elected Chamber. MPs were cast as ‘traitors’ and ‘saboteurs’, Parliament was accused of ‘thwarting the democratic decision of the British people’, and judges were denounced as ‘enemies of the people’ for defending Parliament against the Executive. In 2019, Prime Minister Boris Johnson tried to suspend Parliament altogether, and the Conservative manifesto later attacked ‘a broken Parliament that simply refuses to deliver Brexit’. Meanwhile, Remainers accused their opponents of a ‘coup d’état’, intended to ‘hi-jack democracy’, and demanded a ‘People’s Vote’ to test the democratic mandate of any Brexit deal.

This lecture explores both the causes and consequences of Britain’s democratic crisis. It asks why there was such a widespread sense of democracy in peril, and sets Brexit within the longer history of democratic thought in Britain. It explores the relationship between parliamentary democracy and direct democracy, and assesses the legacy of the Brexit controversy for democratic thought and practice in the UK.


Sommersemester 2023

22. Juni 2023: Britta Waldschmidt-Nelson (Augsburg)

Inclusion or Illusion? Zum Wahlrecht der Afroamerikaner/innen in den USA

Das Wahlrecht gehört zu den elementarsten Bürgerrechten jeder Demokratie. Umso bemerkenswerter ist es, dass ausgerechtet in den USA, die sich selbst gerne als Wiege der modernen westlichen Demokratie sieht, die Ausübung dieses Rechts einem Teil ihrer Bevölkerung im Süden fast 180 Jahre lang verweigert wurde. Obwohl der 15. Zusatzartikel der US-Verfassung (1870) verboten hatte, jemanden aufgrund von “race, color or previous condition of servitude” vom Wählen auszuschließen, gelang es weißen Rassisten bis Mitte der 1960er Jahre, ihren schwarzen Mitbürger*innen in den Südstaaten das Wahlrecht zu entziehen. Seit der Verabschiedung des Voting Rights Act von 1965 hat sich dies geändert, und Afroamerikaner*innen spielen heute eine wichtige Rolle im politischen Entscheidungsprozess. Dennoch bestehen nach wie vor erhebliche Hindernisse auf dem Weg zu ihrer vollständigen Gleichberechtigung – auch im Hinblick auf das Wahlrecht. Der Vortrag zeigt Ursachen und Erscheinungsformen dieser Entwicklung auf und diskutiert die Bedeutung der sogenannten „black vote“ für nationale Wahlen in den USA.


25. Mai 2023: Martin Conway (Oxford)

Political Men. Masculinity and Democracy in Europe in the Twentieth Century

The surge which has occurred over the last decades in historical writing on democracy has greatly increased our understanding of the ideological, social and institutional contours of the democratic project which came to the fore in Western Europe after 1945. However, the issue of gender has not been a prominent feature of this work. The emergence of women as active citizens during the second half of the twentieth century is often cited as a demonstration of the wider construction of a democratic society. But throughout the century democracy was primarily a regime of political men. In terms of institutional leadership, membership of associational structures, and the wider languages and practices of democracy, it was men who had the dominant role. Men were citizens; and defined their gendered identity through their engagement in the practices of political life. The purpose of this lecture is therefore to analyse the ways in which the practice of twentieth-century democracy always remained inseparable from masculinity.


27. April 2023: Julia Angster (Mannheim)

Globalisierung als Bedrohung der Demokratie: Eine Krisenerzählung

Bedroht die Globalisierung die Demokratie? Genauer: Waren globale Verflechtungen wie die Deregulierung der Waren- und Finanzmärkte, die Verlagerung von Arbeitsplätzen und Produktionsstätten und die Entterritorialisierung von Kultur und Identität die Ursache einer Krise der liberalen Demokratie, die in den 2000er und 2010er Jahren in vielen westlichen Ländern beobachtet wurde? Besonders in Deutschland sahen dies viele Autorinnen und Autoren aus den Sozial-, Geschichts- und Rechtswissenschaften so. Der Vortrag stellt diese Sorgen und Argumente vor und ordnet sie historisch ein. Er fragt nach den Grundannahmen über Demokratie und Staatlichkeit ebenso wie nach dem Verständnis von Globalisierung, die dieser Krisenerzählung zugrunde liegen.


Wintersemester 2022/23

2. Februar 2023: Martin Schulze Wessel (München)

Religion in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert  Vehikel oder Hemmnis der Demokratie?

Religion, Staat und Demokratie standen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert in vielfältigen Beziehungen zueinander. In der Zwischenkriegszeit wurden säkulare demokratische Ordnungen teilweise gegen die Ansprüche von Religionsgemeinschaften durchgesetzt. Zugleich waren Konfessionen ein wichtiger Faktor bei der Strukturbildung der Demokratie in den 1920er Jahren. In Teilen Ostmitteleuropas ist in den 1930er und 1940er Jahren eine Instrumentalisierung der Religion durch faschistische Regime festzustellen. In der Zeit des Kalten Krieges wurde Religion staatlich unterdrückt, aber es gab auch Phasen der Koexistenz von kommunistischen Staaten und christlichen Kirchen sowie jüdischer Religionsgemeinschaften. Die Revolution von 1989 führte zur neuen Beziehung zwischen Demokratie und Religion. Einerseits bezogen die demokratischen Bewegungen Ostmitteleuropas Unterstützung aus dem Bereich der Religion. Andererseits kam es bald nach 1989 stellenweise zu Geltungskonflikten zwischen dem Staat und Kirchen.


8. Dezember 2022: Dietmar Süß (Augsburg)

Demokratie von unten? Soziale Bewegungen und demokratische Gesellschaften nach 1945

Sind soziale Bewegungen die Hoffnungsträger gesellschaftlicher Demokratisierung und emanzipatorischer Träume? Oder angstgetriebene Antworten auf die Konflikte moderner, liberaler Gesellschaften? Wie genau sieht sie aus: Die Suche nach der „Demokratisierung der Demokratie“? Der Vortrag fragt nach der Bedeutung des kollektiven Protestes unterschiedlicher sozialer Bewegungen, ihren Vorstellungen von Demokratie und Partizipation, ihrer Kritik an Macht- und Herrschaftsverhältnissen nach 1945. Soziale Bewegungen stehen dabei vielfach im Zentrum der Auseinandersetzung um die Legitimität liberaldemokratische Ordnungen westlichen Typs. Es geht mithin um Fragen von Staatlichkeit und Repräsentation, um Mechanismen der Inklusion und Exklusion, um Prozesse der Entgrenzung des Politischen und der Dezentralisierung, um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum.


17. November 2022: Christoph Schönberger (Köln)

Die Säle der Demokratie. Eigenheiten der deutschen Demokratiegeschichte im Spiegel ihrer Plenarsäle

Parlamentarische Plenarsäle sind mehr als bloße Funktionsarchitektur. In ihnen verkörpert sich die jeweilige Verfassungsordnung und wird anschaulich. Die Topographie des Plenarsaals ermöglicht physisch das parlamentarische Geschehen und prägt zugleich die Vorstellungen, welche sich Teilnehmer und Zuschauer davon machen. Der Vortrag widmet sich den Eigenheiten und Merkwürdigkeiten der deutschen parlamentarischen Tradition in der besonderen Form, welche diese in den nationalen Plenarsälen seit dem Reichstag des Deutschen Kaiserreichs gewonnen hat. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der prägenden Nachwirkung einer Formensprache aus der langen Epoche der Monarchie in den Plenarsälen der parlamentarischen Demokratie bis in die Gegenwart.


27. Oktober 2022: Bernhard Rieger (Leiden)

"Kein Recht auf Faulheit“. Zur Umdeutung von Bürgerrechten in der postindustriellen Gesellschaft

"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft", polemisierte Gerhard Schröder im April 2001 angesichts hoher Beschäftigungslosigkeit und Haushaltsdefizite. Die sozialpolitische Großzügigkeit der Nachkriegszeit hätte, so Schröders Vorwurf, Bürgern exzessive soziale Rechte zugestanden, die für eine allseits beklagte Wirtschaftsmisere in der Bundesrepublik mitverantwortlich waren. Als Antwort initiierte die rot-grüne Regierung eine auf die postindustrielle Gesellschaft zugeschnittene Arbeitsmarktreform als Teil eines sozialpolitischen Maßnahmenbündels, das dem Einzelnen mehr "Eigenverantwortung" auferlegte und soziale Bürgerrechte neu definierte. Der Zeitpunkt der Reformen in Deutschland, deren Merkmale sowie deren Wirkungen am unteren Rand der Gesellschaft erklären, weshalb die um die Jahrtausendwende eingeleitete sozialpolitische Trendwende in der Bundesrepublik umstrittener als in anderen postindustriellen Gesellschaften ist und wiederholt als Risiko für die Demokratie betrachtet wird.


Sommersemester 2022

5. Mai: Ravi Ahuja (Göttingen)

Dynamiken der Demokratisierung und des Autoritarismus im Indien des 20. Jahrhunderts

Das Klischee „größte Demokratie der Welt“ wird gerne bemüht, wenn es um Indien und seine geostrategische Einbindung geht. Der historische Befund ist widersprüchlicher: Der Subkontinent ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts zugleich Schauplatz vitaler, umfassender und vielfältiger Demokratisierungsbewegungen und Brutstätte scharfer autoritärer Gegentendenzen. Seit dem Regierungsantritt der rechtsautoritären BJP im Jahre 2014 wurden diese Gegentendenzen dominant und gefährden die Grundlagen der Demokratie. Das wirft neue historische Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen Demokratisierung und Autoritarismus in der neueren indischen Geschichte auf: nach kolonialen und indigenen Ursprüngen, nach Verbindungen mit der europäischen Rechten und nach postkolonialen Dynamiken von der nehruvianischen Periode zentralisierter Wirtschaftsplanung über das Notstandsregime Indira Gandhis bis hin zur gegenwärtigen Allianz von Wirtschaftsliberalismus und Hindu-Majoritarismus.


2. Juni: Ute Daniel (Braunschweig)

Eine andere Vorgeschichte der Demokratie. Der Streit um Besitzsteuern vor 1914 in Deutschland und Großbritannien

Die Frage, was die Vorgeschichte der heutigen Demokratie ist, scheint auf den ersten Blick überflüssig zu sein. Denn die Schwerpunkte der Demokratiegeschichtsschreibung – Wahlrecht und -praktiken, Parlamentarisierung und politisch-soziale Bewegungen, die erweiterte politische Partizipation einfordern – sind zweifellos Teile einer Vorgeschichte der Demokratie. Aber eben nur Teile, wie im Vortrag argumentiert werden soll. Was fehlt, ist ein zentraler Aspekt der Demokratisierungsgeschichte: nämlich die Geschichte der parlamentarischen Befugnis, die Lebensverhältnisse der Menschen anzugleichen, indem in die tradierten Besitzverhältnisse eingegriffen wird.

Der Vortrag wird für die Zeit um 1900 zu illustrieren versuchen, wie umkämpft diese Frage war – eine Frage, deren Brisanz bis heute andauert.


30. Juni: Kiran Patel (München)

Laboratorium Europa. Der Ort der EU in der Demokratiegeschichte

„Demokratiedefizit“, „democratic backsliding“ und „demoicracy” bilden lediglich drei besonders wichtige Stichworte, mit denen Probleme und Perspektiven des europäischen Einigungsprozesses in den letzten Jahren beschrieben worden sind. Tatsächlich stellt die heutige EU in Bezug auf Anspruch und Erwartungen einen in seiner Intensität beispiellosen Versuch dar, eine demokratische politische Ordnung auf überstaatlicher Ebene zu errichten.

Der Vortrag geht der Frage nach, warum die demokratische Legitimation in der Anfangsphase des Einigungsprojektes kaum hinterfragt wurde, wie sich dies vor allem seit den 1970er Jahren veränderte, wie die jahrzehntelange Debatte über das „Demokratiedefizit“ zu bewerten ist, und vor welchen Herausforderungen die Europäische Union heute steht.


21. Juli: Paul Nolte (Berlin)

Populisten, Clowns und Volkes Stimme: Die raue Demokratie des frühen 21. Jahrhunderts – eine historische Standortbestimmung

Im frühen 21. Jahrhundert, kurz nach ihrem vermeintlichen Triumph von 1989, ist die Demokratie in eine schwere Krise geraten. Wieder einmal muss sie sich gegen autoritäre Versuchungen behaupten. Und doch ist die Lage anders: Die Demokratie selber wandelt sich. Parteien zerfallen; Clowns und Satiriker machen Politik; jeder will gehört werden, gerne mit Grobheiten. Was ist noch neue Volkstümlichkeit, was schon gefährlicher Populismus? Was ist legitime Elitenkritik, was billige Politikerschelte, die der Demokratie das Wasser des Vertrauens abgräbt? In die gute alte Zeit der Demokratie mit ihren klaren Grenzen führt kein Weg zurück. Also müssen wir anfangen, die neue, die raue Demokratie zu verstehen, ihre Ursachen, ihre Chancen und ihre Gefahren.




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