Universität der Bundeswehr München
Seminar: Informelle Kommunikation, Propaganda und Information "von unten" im Europa des Zweiten Weltkriegs (1939-1945)
Termine: 25.-27. Februar 2022, Fr.14-18 Uhr, Sa/So 9-19 Uhr (Fr.-So., Blockseminar).
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs befanden sich quer durch Europa geschätzt 200 Millionen Menschen unter deutscher Besatzung. Die Errichtung nationalsozialistischer Besatzungsstrukturen erschuf jedoch nicht nur neue soziale Realitäten, die von Gewalt, gesellschaftlichen Spaltungen, Massenmord und Holocaust geprägt waren. Vielmehr veränderte sie auch das kommunikative Umfeld von ganzen Besatzungsgesellschaften. In eine Situation gezwungen, in der Gewalt, Zensur und Propaganda vorherige mediale Öffentlichkeiten zerstörten, in der das vertraute soziale Umfeld zusammenbrach und gewohnte Kommunikationskanäle versiegten, wurden Menschen dazu gezwungen, alternative Informationsquellen zu finden. Nicht selten wendeten sie sich an informelle Kommunikationsformen, um ihre Situation einzuschätzen und ihr Überleben zu sichern: private Gespräche, Briefe, Flugblätter, Graffitis, Klatsch und Tratsch, Witze und Gerüchte.
Dieses Seminar widmet sich auf transnationaler und komparativer Ebene der informellen Kommunikation im Zweiten Weltkrieg, mit besonderem Blick auf das "Dritte Reich" und dessen besetzten Gebiete. Dabei untersucht es einerseits, wie mediale Öffentlichkeiten in Kriegszeiten funktionierten: Was gab es — sowohl im nationalsozialistischen Deutschland und in dessen besetzten Gebieten als auch unter den Alliierten — auf offizieller Ebene für Informationsangebote? Inwiefern wurde Kommunikation im Rahmen verschiedener politischer Systeme durch Propaganda, Zensur und Überwachung gelenkt, kontrolliert oder beschränkt? Andererseits fragt das Seminar nach den Reaktionen von Menschen auf nationalsozialistische Herrschaft: Wie reagierten Personen auf neue kommunikative Situationen, in denen ein beschränktes offizielles Informationsangebot existierte, in denen der freie Meinungsaustausch und die Verbreitung verlässlicher, verifizierbarer Informationen unterbunden wurden? Wie schufen Menschen durch Gerüchte, Witze oder Falschnachrichten Realitäten — und wie beeinflusste dies ihr Handeln? Wie versuchten Behörden, diesen informellen Informationsmarkt zu unterwandern?
Diese Fragen werden im Seminar anhand von diversen historischen Quellen (Propaganda, historische Filme, Presseartikel, Flugblätter, NS-Überwachungsberichte, Zeitzeugenberichte, usw.) erkundet. Verschiedene Gastvorträge werden dabei näher untersuchen, wie einflussreich Kommunikationsformen wie das Gerücht in verschiedenen Kriegskontexten wurden: In der deutschen Kriegsgesellschaft, im besetzten Frankreich und während des Holocaust in Polen. Darüber hinaus werden wir uns mit Literatur auseinandersetzen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit Themen wie dem Gerücht, dem Tratsch oder der Falschnachricht befasst hat. Dadurch erhofft sich das Seminar eine breitere Kontextualisierung aktueller Debatten über "Fake-News", "Lügenpresse" und Postfaktizität.
Literatur: Auszüge aus: Gordon W. Allport & Leo Postman, The Psychology of Rumor (New York: Henry Holt and Company, 1947); Marc Bloch, "Réflexions d’un historien sur les fausses nouvelles de la guerre" (1921); Jo Fox, "Confronting Lord Haw-Haw: Rumor and Britain’s Wartime Anti-Lies Bureau," Journal of Modern History, vol. 91, no. 1 (2019): 74-108; Amos Goldberg, "Rumor Culture among Warsaw Jews under Nazi Occupation: A World of Catastrophe Reenchanted," Jewish Social Studies, vol. 21, no. 3 (2016): 91-125; Christoph H. Roland, Das Gerücht im Dritten Reich zwischen 1939 und 1945: Soziologisch-Linguistische Betrachtungen zur Kommunikationsform des Gerüchtes (Dissertation, Universität Tübingen, 2001); Tamotsu Shibutani, Improvised News: A Sociological Study of Rumor (New York: The Bobbs-Merrill Company, 1966).