Isabel Heinemann, Die „erbgesunde“ Familie als transatlantisches Projekt. Paul B. Popenoe, Otmar Freiherr von Verschuer und die Kontinuitäten der Eugenik 1920 bis 1970
Die Autorin untersucht eugenische Ehe- und Familienberatung als transnationale Verflechtungsgeschichte am Beispiel zweier Sozialexperten, des US-amerikanischen Eugenik-Pioniers und Familienberaters Paul B. Popenoe und des führenden NS-Rassenhygienikers und späteren Ordinarius für Humangenetik in Münster, Otmar Freiherr von Verschuer. In der langen Perspektive von den 1920er bis in die 1970er Jahre zeigt sich, dass die NS-Zeit keine Zäsur markierte. Vielmehr wurde auf beiden Seiten des Atlantiks eugenischGunnar Take, es Wissen mobilisiert, um die Familie als Grundlage der Nation vor den Zumutungen der Moderne zu schützen. Die Quellengrundlage bilden wissenschaftliche Texte, Ratgeber, Briefwechsel, Institutsakten und ein bislang nicht genutzter Bestand an Patienten- und Beratungsakten.
Gunnar Take, Korruption, Protektion und Justiz in der Ära Adenauer. Die „Leihwagen-Affäre“ 1958 bis 1960
In der jungen Bundesrepublik wurden Weichen gestellt, welche Praktiken fortan als korrupt gelten sollten. Die „Leihwagen-Affäre“ als doppelter Bestechungs- und Justizskandal trug zu dieser Entwicklung bei. Mit Konrad Adenauer und seinem persönlichen Referenten Hans Kilb waren zentrale Akteure der Kanzlerdemokratie involviert und mit dem Leihwagengeber Daimler-Benz zudem ein Symbol des „Wirtschaftswunders“. Durch aufwändige Öffentlichkeitsarbeit wurden die im Zentrum der Macht vorgelebten Vorteilsnahmen und -gewährungen verteidigt. Dadurch verhalf man Praktiken, die stark vom Wortlaut einschlägiger Gesetze und Verordnungen abwichen, zu sozialer Akzeptanz. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch politische Eingriffe in die Justiz.
Bodo Mrozek/Doubravka Olšáková, Die Katzendreckgestank-Affäre. Grenzüberschreitende Geruchskonflikte zwischen der Bundesrepublik, der ČSSR und der DDR 1976 bis 1989
Hat sich die Zeitgeschichte im Zuge des sensory turn jüngst vermehrt mit Bildern und Klängen befasst, spielen Gerüche bislang eine untergeordnete Rolle. Im Zusammenhang mit Immissionen aus Industrie und Landwirtschaft führten aber gerade üble Gerüche immer wieder zu politischen Konflikten. Anhand des sogenannten Katzendreckgestanks, der in den 1970er Jahren erstmals aktenkundig wurde, lässt sich nachvollziehen, wie Geruchskonflikte grenzüberschreitende Komplikationen verursachen konnten. Mehr als zehn Jahre lang belastete diese Affäre die Beziehungen zwischen der ČSSR, der Bundesrepublik und der DDR. Bodo Mrozek und Doubravka Olšáková analysieren, wie Gerüche technisch vermessen, vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs politisiert und schließlich in internationalen Kooperationen im Zeichen der Détente praktisch bekämpft wurden.
Thorsten Holzhauser/Paul Treffenfeldt, Demokratisierung durch Wahlausschluss? Die Debatte um das Wahlrecht von NS-Belasteten im Parlamentarischen Rat
Der Parlamentarische Rat war 1948/49 nicht nur Verfassungsgeber, er erließ auch das Wahlgesetz zur ersten Bundestagswahl. Zu den umstrittensten Themen unter den Abgeordneten gehörte die Frage, ob nationalsozialistisch belastete Personen das volle Wahlrecht erhalten oder von der Wahl ausgeschlossen werden sollten. Die Diskussionen über den Wahlausschluss ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten sind von der Forschung bislang kaum thematisiert worden. Wie im vorliegenden Beitrag gezeigt werden soll, geben sie Aufschluss über grundlegende Fragen des zeitgenössischen Demokratieverständnisses. Sie zeigen, wie sich Diskurse um Schuld, Verantwortung und Belastung in der Nachkriegszeit mit Fragen von Demokratie und Gleichheit verbanden.
Daniel Siemens, Rechtfertigung und Selbsterhöhung nach der „Nacht der langen Messer“. Die Aufzeichnungen von SA-Stabschef Viktor Lutze 1934 bis 1943
Nach der Ermordung Ernst Röhms am 1. Juli 1934 ernannte Adolf Hitler Viktor Lutze zum neuen Stabschef der Sturmabteilung (SA), ein Amt, das dieser bis zu seinem Unfalltod im Mai 1943 innehatte. Bereits im Sommer 1934 begann er mit der Niederschrift politischer Aufzeichnungen, die je nach Eintrag und Zeitabschnitt zwischen Tagebuch, monatlicher Rückschau und Autobiografie changieren. Diese wichtige autobiografische Quelle eines hochrangigen NS-Politikers wird hier erstmals in Auszügen veröffentlicht und durch eine ausführliche Einleitung kontextualisiert. Das Dokument zeigt die strategischen Überlegungen des Stabschefs und wirft Schlaglichter auf die Probleme der Organisation im Gefüge der polykratischen NS-Herrschaft. Lutzes Schilderung der Ereignisse zwischen Ende Juni und Mitte Juli 1934 ist zudem eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der Röhm-Aktion.