Ariane Leendertz, Die Macht des Wettbewerbs. Die Max-Planck-Gesellschaft und die Ökonomisierung der Wissenschaft seit den 1990er Jahren
Ab Mitte der 1990er Jahre verschrieb sich die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ähnlich wie ein global agierendes Unternehmen der ständigen Optimierung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Ebenso wie die Wirtschaft mussten sich auch die Wissenschaftsorganisationen laufend optimieren und strategisch positionieren, um im nunmehr globalen Wettbewerb nicht zurückzufallen. Andernfalls, so argumentierten die Präsidenten der MPG, war der gesellschaftliche Wohlstand in Deutschland in Gefahr. Ariane Leendertz zeigt, wie sich um die Jahrtausendwende eine Ökonomisierung der politischen Sprache der MPG und der gesellschaftlichen Legitimation der Forschungsförderung vollzog. Sie diskutiert auch, welche institutionellen und inhaltlichen Konsequenzen sich mit dieser Ökonomisierung verbinden lassen.
José Manuel Sáenz Rotko, Pius XI. in der spanischen Arena. Der Vatikan, das nationalsozialistische Deutschland und das Ringen um die gesellschaftspolitische Ausrichtung des Franco-Regimes 1936 bis 1938
Der Autor beleuchtet die Haltung des Heiligen Stuhls im Spanischen Bürgerkrieg. Er analysiert, warum Papst Pius XI. Partei zugunsten der Aufständischen unter General Franco ergriff, lange bevor der Ausgang des Konflikts absehbar war. Quellen aus den Archiven des Vatikan eröffnen neue Perspektiven auf Entscheidungen und Strategien des Heiligen Stuhls. Sie lassen darauf schließen, dass der Papst vor allem aus einem Grund auf Franco zuging: Er wollte der Gefahr einer nationalsozialistischen Infiltration des Franco-Staats in statu nascendi begegnen. Nachdem im Deutschen Reich 1937 der „Kirchenkampf“ eskaliert war, vollzog der Heilige Stuhl einen radikalen Strategiewechsel in seiner Spanienpolitik. Der völkerrechtlichen Anerkennung Francos folgte ein intensives diplomatisches Engagement mit dem Ziel, den deutschen Einfluss wenn nicht zu brechen, so doch zu marginalisieren. Der Vatikan gewann das ideologische Ringen gegen Hitler: Franco gründete sein Regime auf das Fundament einer traditionalistisch-reaktionären Weltanschauung; die katholische Kirche wurde zu einem seiner Eckpfeiler.
Martin Tschiggerl/Thomas Walach, Die erfundene „Trümmerfrau“. Der Umgang mit der NS-Zeit in Österreich
2018 eröffnete der damalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der Freiheitlichen Partei Österreichs in Wien feierlich ein Denkmal für die österreichischen „Trümmerfrauen“, was eine breit geführte öffentliche Debatte über deren Stellenwert und Bedeutung auslöste. Der vorliegende Beitrag wirft auf der Basis bisher kaum bearbeiteter Quellenbestände ein Schlaglicht auf die Tatsachen hinter dieser stark emotionalisierten Diskussion. Zwei Feststellungen liefern dazu die Grundlage: Laut den vorliegenden Quellen waren Männer in der Trümmerbeseitigung überrepräsentiert. Bei ebendiesen Trümmerarbeiterinnen und -arbeitern handelte es sich zum Großteil um ehemalige Angehörige der NS-Bewegung, die per Verfassungsgesetz zur Arbeit verpflichtet waren. Im Zentrum des Beitrags steht daher auch die Frage, wie aus dieser gesetzlich verordneten „Notstandsarbeit“ eine spezifisch österreichische Vorstellung von den „Trümmerfrauen“ entstehen konnte.
Gaëlle Fisher, Geschichtsschreibung und Rechtsprechung. Martin Broszat und die Entschädigung jüdischer Überlebender des Holocaust aus Rumänien 1955 bis 1965
Die Entschädigung hunderttausender Überlebender des Holocaust durch die Bundesrepublik Deutschland war ein präzedenzloser, komplexer und auch umstrittener juristischer Prozess. In den frühen 1950er Jahren entwickelte sich beispielsweise die Frage nach der Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung der Juden im rumänischen Machtbereich während des Zweiten Weltkriegs zu einem bedeutenden Streitpunkt zwischen Überlebenden, ihren Vertretern und den westdeutschen Entschädigungsämtern. Aus diesem Grund kam Sachverständigen eine wichtige Funktion zu; dazu gehörte auch der Mitarbeiterstab des Instituts für Zeitgeschichte, allen voran Martin Broszat. Ausgehend von diesem Fall untersucht Gaëlle Fisher die vielfältigen Spannungen zwischen Geschichtsschreibung und Rechtsprechung.
Bernhard Rieger, „Florida-Rolf“ lässt grüßen. Soziale Dämonen, Auslandssozialhilfe und die Debatte um den Wohlfahrtsstaat in der Ära Schröder
Während der Debatte um die Agenda 2010 erhob die Bild-Zeitung den in Florida ansässigen Sozialhilfeempfänger Rolf J. zum Symbol sozialstaatlicher Dysfunktionalität, um dem Ruf nach Reformen Nachdruck zu verleihen. Nach einer historischen Rekonstruktion der Auslandssozialhilfe als deutscher sozialstaatlicher Sonderpraxis analysiert Bernhard Rieger die von Bild initiierte Kampagne gegen „Florida-Rolf“ und andere „Sozialschmarotzer“. Der Fokus auf erwerbslose, häufig in unkonventionellen Familienverhältnissen lebende Männer verstärkte den Eindruck, bestehende Sozialgesetze ließen konventionelle Männlichkeitsnormen erodieren, verstärkten eine bedrohliche Krise der Arbeitsgesellschaft und bedürften zur Stärkung der Arbeitsethik einer grundsätzlichen Reform.
Nikolai Wehrs, „Abolish Economists!“ Die Britcom „Yes Minister“ und der Wandel des britischen Konservatismus in der Ära Thatcher
Welchen Anteil hatten Formate der Populärkultur an der Renaissance des politischen Konservatismus nach 1968? Die Britcom „Yes Minister“ (1980–1988) gilt gemeinhin als linke Satire auf den Elitismus des britischen Civil Service. Nikolai Wehrs zeigt dagegen auf, wie zielgerichtet die Autoren der TV-Serie das linke Anti-Establishment-Narrativ mit einem neuen Mittelklassenpopulismus verschmolzen und damit einen politisch-kulturellen Möglichkeitsraum für die konservative Ideologie des Thatcherismus schufen. Zugleich, so die These, lassen sich an „Yes Minister“ zentrale Wandlungsprozesse des britischen Konservatismus unter der Ägide von Margaret Thatcher in den 1980er Jahren untersuchen.