Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Carlos A. Haas (jetzt LMU München)
Mit Beginn der deutschen Herrschaft in Polen im Herbst 1939 änderten sich die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung radikal. Schon bald sah sich die Mehrheit der Juden den prekären Bedingungen der Ghettos ausgesetzt. Am Beispiel der Ghettos in Warschau, in Litzmannstadt (Łódź), in Tomaschow (Tomaszów Mazowiecki) und in Petrikau (Piotrków Trybunalski) beschäftigt sich Carlos A. Haas mit den Transformationsprozessen, denen verschiedene Aspekte des Privaten in den Ghettos unterlagen. Die Studie versteht sich als Fortführung und Erweiterung der Fragen aus Alltagsgeschichte, Gender Studies und Jewish Studies, wie sie in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Forschung gerückt sind. Die Arbeit möchte die Geschichte der Ghettos und somit einen wichtigen Aspekt des Holocaust aus einer neuen Perspektive, der Perspektive des „Privaten“ untersuchen.
Hierbei sind Raum und Zeit die Analysekategorien, mit denen verschiedene Transformationsfelder untersucht werden sollen. Beide erfassen zunächst Grundbedingungen des Privaten. Der Blick auf den Umgang mit räumlichen und zeitlichen Einschränkungen, von denen das Leben in den Ghettos maßgeblich geprägt war, führt zu den sozialen Praktiken, in denen sich Transformationen manifestierten. Welche sozialen Praktiken ermöglichten es, Nähe zuzulassen oder Distanz aufzubauen?
Um die Kontinuitätslinien aufzuzeigen, in denen die späteren Opfer des Holocaust standen, geht es in einem kürzeren ersten Abschnitt der Arbeit um die Entwicklungen, die das Judentum in der Zweiten Polnischen Republik durchlaufen hatte. Es folgt eine Analyse des ersten Kriegsmonats, einer Phase des radikalen Umbruchs, in der die deutschen Besatzer in kurzer Zeit neue Rahmenbedingungen des Privaten vorgaben.
In den ausgewählten Ghettos, die alle mindestens drei Jahre bestanden, gelang es den Ghettobewohnern, Residuen des Privaten auszubauen bzw. neu zu definieren. Im Zentrum der Studie stehen mit Schreiben und Lesen zwei Praktiken, die in der extrem fremdbestimmten Umwelt der Ghettos Ausdruck von Selbstbestimmung und Autonomie sowie Teil eines Verstehensprozesses waren. Weiterhin geht es um das allgemeine Bedürfnis nach Alleinsein bzw. um Transformationen im Kontext von Paarbeziehungen und sozialem Nahbereich sowie des religiösen Lebens. Inwieweit führten die vielen verschiedenen Lebenswirklichkeiten, die sich in der Zwischenkriegszeit in der jüdischen Bevölkerung Polens herausgebildet hatten, in all diesen Bereichen zu unterschiedlichen Praktiken? Gibt es Interpretationsmuster, die das naheliegende Narrativ einer Verlustgeschichte sinnvoll ergänzen können? Die Frage nach den Transformationen des Privaten im Ghetto verspricht Einsichten in die Funktionsweisen und Mechanismen des Zusammenlebens innerhalb der Zwangsgemeinschaft. Auf der Grundlage zeitgenössischer Egodokumente wird darüber hinaus untersucht, inwiefern die Praxisfelder Nähe und Distanz eventuell als Deutungsressource dienten. Inwieweit gelang es den Ghettobewohnern, mit Hilfe des Wissens und der Erfahrungen, die sie mit Bezug auf Praktiken des Privaten in der Vorkriegszeit erworben hatten, Dynamiken der indirekten und direkten Vernichtung zumindest annähernd zu erfassen?
Die Studie wurde im Wintersemester 2017/18 als Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen und 2018 mit dem Promotionspreis der Leibniz-Gemeinschaft ausgezeichnet.
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