Vor dem Zweiten Weltkrieg war in Schytomyr, einer mittelgroßen Stadt im Westen der Sowjetukraine, etwa ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Ein Großteil dieser Gruppe überlebte den Krieg und den Holocaust, in den meisten Fällen im sowjetischen Hinterland oder der Roten Armee, und kehrte nach Befreiung der Stadt wieder zurück. Doch die jüdische Gemeinschaft in den Nachkriegsjahren unterschied sich erheblich von der Vorkriegsgemeinschaft. Das jüdische Brauchtum und die Religion waren nahezu verschwunden, ebenso die jiddische Sprache. Im Laufe von einer Generation wurde das traditionelle Leben durch eine neue jüdische Identität ersetzt, die russischsprachig und säkular war.
In diesem Forschungsprojekt geht es um die Gestaltung dieser sowjetjüdischen Identität im Zuge des Zweiten Weltkrieges. Anhand von Zeugnissen und Ego-Dokumenten werden die unterschiedlichen Kriegserfahrungen der Schytomyrer Jüdinnen und Juden rekonstruiert – unter der deutschen Besatzung, in der Armee und im sowjetischen Hinterland. Es wird gezeigt, dass einerseits sowjetisierte Jüdinnen und Juden bessere Chancen hatten, den Krieg zu überleben; und andererseits der Krieg und dessen Nachwehen selbst eine assimilative Wirkung auf Sowjetbürger ausübten, vor allem auf die jüdische Bevölkerung. Letzten Endes blieb eine ausgeprägte jüdische Eigenheit erhalten, doch diese war in hohem Maße negativ bestimmt, durch Schweigen und Leugnung.