Wie sind die Ministerien und Behörden der jungen Bundesrepublik mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen – welche Brüche und Kontinuitäten prägten den demokratischen Neuanfang? Im Forschungsprogramm „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus“, das von der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM) gefördert wurde, haben zehn Forschungsprojekte staatliche Institutionen von der Ära Adenauer bis in die 1970er Jahre untersucht und ressortübergreifende Fragestellungen verfolgt. Die Projekte sind inzwischen weitgehend abgeschlossen. In einer gemeinsam von Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte München−Berlin (IfZ) und Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) veranstalteten Fachtagung werden am 25. und 26. Oktober in Berlin Thesen und Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Am 25. Oktober, 20 Uhr, spricht Kulturstaatsministerin Claudia Roth ein Grußwort.
Das Bundesarchiv war verantwortlich für die Koordinierung der zehn Projekte, darunter solche zu Bundeskanzler- und Bundespresseamt, stellte die Quellen aus seinem Bestand zur Verfügung und ist Gastgeber der gemeinsamen Abschlusstagung.
Prof. Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs: „Dank der aktuellen Forschung werden wir in Zukunft wahrhaftiger mit der schwierigen deutschen Geschichte der Nachkriegszeit umgehen können. Der ein oder andere Schleier, der bislang auf diesen Jahrzehnten lag, wird mithilfe der vorliegenden Quellen des Bundesarchivs gelüftet. Nur mit dem offenen Zugang zu diesen Dokumenten sind Aufarbeitung und ergebnisoffene Forschung möglich.“
Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte: „Für die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik ist es von ganz besonderer Bedeutung, ob und wie es den staatlichen Institutionen gelungen ist, sich vom Personal, der Ideologie und der Praxis des NS-Regimes abzugrenzen und eine neue demokratische Politik und Verwaltung zu etablieren. Durch den besonderen Zuschnitt dieses Forschungsprogramms war es möglich, nicht nur einzelne Ministerien zu untersuchen, sondern die Ressort- und Behördengrenzen zu verlassen und übergeordnete Fragestellungen zu verfolgen. Die Tagung führt diesen Ansatz fort und bietet eine Plattform, um die bislang in den Einzelprojekten gewonnenen Erkenntnisse zusammenzuführen und zu verdichten.“
Prof. Dr. Martin Sabrow, ehemaliger Direktor und Co-Projektleiter, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam: „Der Boom der überwiegend staatlich finanzierten Behördenforschung kristallisiert sich als eigene Etappe der fortdauernden Auseinandersetzung mit der Last der Vergangenheit in Deutschland heraus. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse markieren den gegenwärtigen Stand einer historischen Aufarbeitung, die seit einer Reihe von Jahren und bahnbrechend mit der Studie ,Das Amt und die Vergangenheit‘ auch die Nachgeschichte der NS-Herrschaft immer energischer in den Blick genommen hat und die Ambivalenz von Aufbruch und Nachwirkung im demokratischen Neuanfang nach 1945 besser sichtbar macht.“
Die Forschungsergebnisse zu NS-Kontinuitäten und Neuanfängen werden auf drei Panels vorgestellt. Sie widmen sich der Organisationsgeschichte und Verwaltungskultur, der Personalpolitik und den Demokratievorstellungen der untersuchten Behörden. Zur Veranstaltung gehören zwei Podiumsrunden, in denen Fallbeispiele des Umbruchs in den internationalen Kontext und den Rahmen der bisherigen Behördenforschung eingeordnet werden.
Es besteht die Möglichkeit zur kostenlosen Teilnahme an der Fachtagung oder an einzelnen Programmpunkten, vor Ort oder digital. Die Konferenz wird vom 25. Oktober (14 Uhr) bis zum 26. Oktober 2022 (ca. 19.45 Uhr) in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin, stattfinden. Anmeldung zur Teilnahme oder für einen Streaming-Link bitte bis 21.10.2022 an m.ferlau[at]bundesarchiv.de
Hintergrund:
Als die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde, standen ihre staatlichen Institutionen vor der Aufgabe, die formale Entnazifizierung in politisches Handeln zu übersetzen. Die politisch proklamierte Lösung von der NS-Vergangenheit erwies sich sowohl auf der personellen Ebene, bei der Gesetzgebung als auch in der Schaffung einer neuen demokratischen Kultur als langwieriger und widersprüchlicher Prozess, der sich bis in die 1970er Jahre hinzog. Die Tagung thematisiert diese Nachgeschichte des Nationalsozialismus an exemplarischen staatlichen Handlungsfeldern und in so unterschiedlichen Behörden wie dem Bundeskanzleramt, dem Bundespresseamt, dem Bundesvertriebenenministerium, aber auch in Landesjustizverwaltungen und im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege.
Die auf der Tagung zur Sprache kommenden Projekte gehen den Fragen nach, wie viele durch ihre Funktion in der NS-Diktatur Belastete die Ministerien, Bundes- und Landesbehörden einstellen konnten oder wollten und welche Folgen dies hatte. Sie analysieren, wie der vielschichtige und oft auf formale Parteimitgliedschaft reduzierte Begriff der „Belastung“ in den politischen Auseinandersetzungen eingesetzt wurde. Zugleich veranschaulichen sie, wie sich die Grenzen verschoben, die in Bezug auf NS-Belastungen gezogen wurden. Die Projektergebnisse legen alte und neue „Seilschaften“ offen und machen antiliberale Haltungen sichtbar, die die Anfänge einer demokratischen Politik und Öffentlichkeitsarbeit erschwerten und als Hypotheken der Diktaturvergangenheit weiterwirkten.