Kardinal Faulhabers Tagebuch aus dem Jahr 1938 geht online
München/Münster, 12.10.2020. Die Tagebücher des früheren Erzbischofs von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, die seit 2015 in einer Online-Edition zugänglich gemacht werden, sind um einen weiteren Jahrgang ergänzt worden: Auf der Seite www.faulhaber-edition.dehat das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster nun den Jahrgang 1938freigeschaltet.Düstere Vorahnungen quälen Michael von Faulhaber zu Beginn des Jahres 1938. Doch die Radikalität und die Brutalität der Maßnahmen des NS-Staates gegenüber seinen erklärten Feinden, dem „Weltjudentum und seinen schwarzen und roten Bundesgenossen“,übertreffen des Erzbischofs schlimmste Befürchtungen.Schon früh im Jahr notiert Faulhaber in einem Anflug von Resignation in sein Tagebuch, dass das Vorgehen des Regimes auf nichts weniger als „die Vernichtung des Christentums“ abziele.Zu diesem Zeitpunkt machen die Nationalsozialisten keinen Hehl mehr aus ihren konkordatswidrigen Absichten, das katholische Vereins-und Verbandswesen endgültig zu liquidieren, die Ordensschulen ausnahmslos zu schließen sowie sämtliche kirchliche Schulen in staatliche Gemeinschaftsschulen umzuwandeln. Mit immer neuen Eingaben bei den zuständigen Behörden tritt der Erzbischof diesen rechtswidrigen Maßnahmen entgegen, „aber vergeblich“, wie er schreibt. Auch in seinen Predigten findet er so deutliche Worte für die Handlungen der Nationalsozialisten, dass Reichspropagandaminister Goebbels am 24. Februar in seinem Tagebuch festhält: „Cardinal Faulhaber hat wieder eine freche Rede gegen uns gehalten. Aber unsere Rache wird nicht lange auf sich warten lassen.“
Engagement für getaufte Jüdinnen und Juden
Immer verzweifelter gestaltet sich die Lage der getauften Juden. Für die Rettung sogenannter „nichtarischer Christen“, die sich an ihn wenden, engagiert sich Faulhaber stark, indem er u.a. in Zusammenarbeit mit dem Caritasverband in München und dem Raphaelsverein in Hamburg deren Auswanderung fördert. Dagegen erkennt er keine originäre Zuständigkeit der katholischen Kirche, Verfolgten anderer Religionsgemeinschaften zur Seite zu stehen, weswegen er jegliches Engagement zugunsten deutscher Juden unterlässt, wiewohl er deren Schicksal zutiefst bedauert. Den Abriss der jüdischen Hauptsynagoge im Zentrum Münchens im Sommer thematisiert er in seinem Tagebuch nicht. Doch finden sich dort auch nur dürre Worte über den Abriss der evangelisch-lutherischen Matthäuskirche wenig später. Lakonisch vermerkt er über die Reichspogromnacht: „Heute Nacht die Synagoge in der Herzog-Rudolfstraße niedergebrannt und die Auslagen der Judengeschäfte eingeschlagen.“
Sturm auf das Erzbischöfliche Palais
Akribisch und ausführlich fällt hingegen seine Schilderung der ebenfalls dramatischen Ereignisse in der Nacht vom 11. auf den 12. November aus, als ein von der NS-Propaganda aufgehetzter Mob aus NSDAP-Mitgliedern, HJ, SS-und SA-Männern unter „Nach Dachau“-und „In Schutzhaft mit dem Hochverräter“-Rufen versucht, gewaltsam in das Erzbischöfliche Palais ein-und zu ihm vorzudringen. Der Sturm auf das Palais wird im letzten Moment, kurz vor dem Bersten des massiven Eingangstores, gestoppt –von der Polizei, aber vermutlich auch auf Anweisung eines hohen Parteifunktionärs.
Das Editionsprojekt
Michael Kardinal Faulhaber hat seit seiner Zeit als Bischof von Speyer Tagebuch geführt und darin seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten festgehalten. Diese Quelle wird im Projekt „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.deveröffentlicht. Bisher sind die Jahrgänge 1911-1919, 1933-1937und 1945-1948vollständig abrufbar. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Experten entziffern können. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden. Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie-und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.