Wie sind Bayerns Ministerien und Behörden nach 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen – welche Brüche und Kontinuitäten prägten den demokratischen Neuanfang? Diese Fragen hat das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) im Projekt „Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit. Politik, Personal, Prägungen in Bayern 1945-1975“ erforscht. Mit der Monografie „Hüter des Freistaats“ liegt nun die erste Studie über das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei vor. Sie untersucht die Karriereverläufe von vier bayerische Ministerpräsidenten, den jeweiligen Leitern der Staatskanzlei sowie Abteilungs- und Referatsleitern zwischen 1945 und 1962.
Im Gegensatz zu den Bundesministerien, die erst mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 errichtet wurden und über die in den letzten Jahren vielfältige Studien zur NS-Belastung ihres Personals erarbeitet wurden, fand der Wiederaufbau der Staatsverwaltung in den Ländern direkt nach Kriegsende und damit unter starker Prägung der alliierten Besatzungsbehörden statt. „Die US-Militärbehörden verfolgten anfangs eine rigorose Entnazifizierungspolitik, die die provisorische Landesregierung stark unter Druck setzte“, beschreibt Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, den besonderen Rahmen dieser Untersuchung auf Landesebene. Entscheidendes Kriterium stellte die formale NS-Belastung, also die Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihr angegliederter Organisationen, dar.
Neustart mit Schäffer und Högner
Um den demokratischen Neustart zu vollziehen, setzte die Militärverwaltung auf Männer, die selbst durch das NS-Regime verfolgt worden waren. „Dieses Gründungspersonal der Staatsregierung war im Wesentlichen um 1890 geboren, hatte seine Sozialisation also noch im Königreich Bayern erfahren und zum Teil eine ambivalente Position zur Demokratie von Weimar eingenommen“, so Wirsching. Fritz Schäffer, der erste von den US-Behörden eingesetzte Ministerpräsident und frühere Vorsitzende der Bayerischen Volkspartei, war 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und verhaftet worden. Ab 1944 war er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, weil er fälschlicherweise verdächtigt wurde, an der Widerstandsbewegung des 20. Juli beteiligt gewesen zu sein. Als Ministerpräsident knüpfte er an das tradierte Selbstverständnis der bayerischen Beamtenschaft an, das noch in der Monarchie geprägt worden war. Sein Ziel war es, dafür möglichst viele Beamte nur als „nominelle“ Parteimitglieder darzustellen und deren Belastung zu relativieren. Schon im September 1945 wurde Schäffer wegen anhaltender Kritik an seiner Personalpolitik auf Anordnung von Oberbefehlshaber Eisenhower entlassen.
Ihm folgte der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner, der 1933 nach Österreich, später in die Schweiz geflohen war und schon im Exil an einer Neuordnung Bayerns gearbeitet hatte. Er setzte die Anordnung der Militärregierung konsequent um: Ab Dezember 1945 durfte offiziell niemand mehr in der Staatskanzlei arbeiten, der einmal der NSDAP angehört hatte. Eine Prüfung konkreter Handlungen in der NS-Zeit war damit allerdings nicht verbunden. Auch Hoegner blieb nicht lang im Amt, weil die neu gegründete CSU bei der ersten Landtagswahl vom November 1946 die Mehrheit gewann.
NS-Belastung als öffentlicher Makel
Bei der Wahl von Hoegners Nachfolger spielte der Umgang mit der NS-Zeit eine bemerkenswerte Rolle: In den Grabenkämpfen der frühen CSU unterstellten parteiinterne Gegner aus dem konservativen „Hundhammer“-Flügel den Kandidaten Josef Müller und Anton Pfeiffer Opportunismus gegenüber dem Nationalsozialismus. Im Landtag konnte sich so überraschend Hans Ehard als Ministerpräsident durchsetzen. Dieser galt als einwandfreier NS-Gegner, weil er 1924 Staatsanwalt im Putschprozess gegen Hitler gewesen war. Weniger bekannt war seine Rolle als Senatspräsident am Oberlandesgericht München während der NS-Diktatur, die später immer wieder zu Vorwürfen wegen einzelner Urteile führte.
„Die individuelle NS-Belastung besaß damit in dieser frühen Phase durchaus öffentliches Skandalisierungspotenzial“, erläutert Wirsching. „Dennoch blieb der politische Reinigungswille gegenüber der Beamtenschaft begrenzt.“ Wie die Studie des IfZ belegt, zählte in der Personalpolitik der Staatskanzlei die Wahrung bayerischer Identität mehr als die Abgrenzung vom NS-Regime. Gemeinsames Ziel der Staatsdiener sollte stattdessen die Verteidigung der Eigenstaatlichkeit Bayerns sein. Einen Hebel dafür lieferte eine dezidierte Geschichtspolitik, die von der Staatskanzlei vorangetrieben wurde. Herrschendes Narrativ wurde die tradierte Staatlichkeit Bayerns, die gewissermaßen durch die zentralistische Politik des NS-Regimes nur unterbrochen worden sei. Dadurch konnte der Nationalsozialismus als etwas „Außerbayerisches“ abgetrennt und Bayern auch als Opfer des NS-Staates stilisieren werden.
Kein Elitenaustausch
„Der konsequente ‚Elitenaustausch‘, den die US-Militärregierung nach 1945 intendiert hatte, scheiterte auch in Bayern“, so Andreas Wirsching. Mit rund 28 Prozent lag der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder am Führungspersonal der Staatskanzlei zwar deutlich niedriger als in den meisten der ab 1949 gegründeten Bundesministerien. „Doch dies war nicht die Folge größerer vergangenheitspolitischer Sensibilität, sondern lag vielmehr daran, dass unter dem Druck der amerikanischen Behörden gleich nach 1945 ein formal unbelasteter Personalstamm aufgebaut worden war.“
Untersuchungen zu weiteren Ministerien erscheinen ab Mai
Die Studie über die Staatskanzlei ist die erste der mittlerweile abgeschlossenen Untersuchungen des IfZ quer durch bayerische Ministerien und Landesbehörden, die ab 2024 einzeln als Buch veröffentlicht werden. Anfang Mai wird eine Arbeit über das Bayerische Gesundheitsministerium erscheinen, es schließen sich das Justizministerium und das Kultusministerium an. Weitere Studien werden für die Veröffentlichung 2025 vorbereitet.