Kardinal Faulhabers Tagebuch aus dem Jahr 1949 geht online
München/Münster, 11.6.2021. Die Tagebücher des früheren Erzbischofs von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, die seit 2015 in einer Online-Edition zugänglich gemacht werden, sind um einen weiteren Jahrgang ergänzt worden: Auf der Seite www.faulhaber-edition.de hat das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster nun den Jahrgang 1949 freigeschaltet.
Das Tagebuch Jahres 1949 ist ein erstrangiges Zeugnis der Notlage der frühen Nachkriegsjahre in Bayern. Die fortbestehenden Versorgungsengpässe bei Nahrungsmitteln lindert die katholische Kirche u.a. durch die Verteilung von Lebensmittelpaketen, die zu einem beträchtlichen Teil aus dem Ausland stammen. Dem anhaltenden Mangel an Wohnraum, der vorrangig den massiven Kriegsschäden und der Aufnahme von ca. zwei Millionen Heimatvertriebenen seit 1946 geschuldet ist, begegnen die Diözesen mit der Gründung von Siedlungswerken. Gleichzeitig leiden ländliche Diözesen wie Passau und Eichstätt an finanzieller Auszehrung.
Neben diesen überwiegend existentiellen Alltagssorgen treten die überregionalen politischen Entwicklungen im Tagebuch häufig zurück. Das Grundgesetz erwähnt Faulhaber zweimal beiläufig. Über ein Zusammentreffen mit dem frisch gewählten Bundespräsidenten Theodor Heuss, der am 6. Oktober München einen offiziellen Besuch abstattet, notiert der Tagebuchschreiber zufrieden: „Im Goldenen Buch der Stadt hat er sich heute eingetragen nach meinem Namen.“ Dagegen misst der Münchner Oberhirte den Wahlen zum 1. Deutschen Bundestag am 14. August Bedeutung über den parteipolitischen Bereich hinaus bei. Zunächst gelingt es ihm, den Geistlichen Rat Emil Muhler von einer Kandidatur für die CSU abzuhalten. Denn einer solchen Absicht steht das Reichskonkordat von 1933 entgegen, an dem die katholische Kirche festhalten möchte, das aber die Mitgliedschaft in politischen Parteien und die Tätigkeit für solche Parteien für Geistliche untersagt. Außerdem gilt es für die katholische Kirche, eine Mehrheit der linken Parteien bei den Bundestagswahlen zu verhindern, was durch die Mobilisierung der katholischen Wählerschaft erreicht werden soll. Den Kampf um die Bekenntnisschule sieht der Erzbischof trotz deren Verankerung in der Bayerischen Verfassung von 1946 noch nicht als entschieden an: „Elternrecht oder Teufelsrecht“ vertraut er am 17. Juni seinem Tagebuch an. In ihrem Hirtenwort vom 29. Juli ermahnen die bayerischen Bischöfe ihre Diözesanen deshalb zur Teilnahme an der Bundestagwahl: „Wahlrecht bedeutet Wahlpflicht!“ Kaum verklausuliert rufen sie zur Wahl von CSU oder Bayernpartei auf, indem sie das „christliche Gewissen“ zum einzig relevanten Maßstab für eine Wahlentscheidung erheben. Aber am Wahltag befällt Faulhaber eine düstere Vorahnung: „Die Straßen sind leer, es wird sich ungünstig an der Wahlbeteiligung auswirken.“
Doch gibt das Tagebuch auch positive Nachrichten preis. So wird Michael von Faulhaber anlässlich seines 80. Geburtstags am 5. März das Ehrenbürgerecht der Stadt München vom Stadtrat verliehen. Der im Krieg schwer beschädigte Liebfrauendom verfügt im Juli endlich wieder über ein Dach. Am 18. September öffnet das Oktoberfest erstmals seit 1938 wieder seine Pforten und wenige Tage später feiern die Mitbewohner des Erzbischöflichen Palais gemeinsam mit Faulhaber dessen Namenstag mit „Wiesenbretzl und Wiesnbier“. Schließlich gründet der Erzbischof im Herbst den sogenannten Apostelkreis München. In diesem exklusiven Vortrags- und Diskussionszirkel beraten katholische Honoratioren verschiedener Professionen über Probleme der Gegenwart vom katholischen Standpunkt aus.
Das Editionsprojekt
Michael Kardinal Faulhaber hat seit seiner Zeit als Bischof von Speyer Tagebuch geführt und darin seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten festgehalten. Diese Quelle wird im Projekt „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.de veröffentlicht. Bisher sind die Jahrgänge 1911-1919, 1933-1939 und 1945-1948 vollständig abrufbar. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Experten entziffern können. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden. Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.