„Die erste Kugel für Kahr, die zweite Kugel für Faulhaber.“

Kardinal Faulhabers Tagebuch aus dem Jahr 1923 geht online

Die Tagebücher des früheren Erzbischofs von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, die seit 2015 in einer Online-Edition zugänglich gemacht werden, sind um einen weiteren Jahrgang ergänzt worden: Auf der Seite www.faulhaber-edition.de hat das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster nun den Jahrgang 1923 freigeschaltet.

Der Einmarsch der Franzosen und Belgier an Rhein und Ruhr, der Aufruf der Reichsregierung zum „passiven Widerstand“ gegen die Okkupanten, die sich zur Hyperinflation steigernde Geldentwertung, separatistische Bestrebungen im Rheinland und der bayerischen Pfalz, Putschversuche der extremen Linken und Rechten, die zunehmenden Spannungen zwischen dem Deutschen Reich auf der einen und Bayern sowie Sachsen und Thüringen auf der anderen Seite, deuteten damals auf einen völligen Zusammenbruch Deutschlands hin. Die genannten Ereignisse notierte Faulhaber in seinem Tagebuch, wobei sein Hauptaugenmerk auf den Entwicklungen in Bayern lag.


Bayern: Auf dem Weg zum Hitler-Ludendorff-Putsch

Die „öffentliche Lage sehr ernst. Am Bahnhof erfahren wir, wegen des Parteitags Adolf Hitler wurde der Ausnahmezustand verhängt, in der Stadt große Aufregung“ notierte Michael von Faulhaber Ende Januar 1923. Zwar erkannte der Erzbischof schon früh das „Unchristliche“ an der NS-Bewegung. Aber Überlegungen wie dem Nationalsozialismus zu begegnen sei, stellte er noch zurück. Bald nach der Rückkehr von einer großen USA-Reise, die der Spendensammlung zugunsten der Not leidenden deutschen Bevölkerung gedient hatte, warnte ihn der Jesuitenpater Rupert Mayer: „Die nationalsozialistische Bewegung geht immer weiter: Haß gegen das Alte Testament, Haß gegen andere Völker, eine unerhörte Sprache gegen den Papst“. Doch Kronprinz Rupprecht von Bayern riet Faulhaber, die „katholischen Geistlichen sollten nicht gegen den Nationalsozialismus auftreten.“ Im Herbst spitzte sich die Lage zu. Gustav Ritter von Kahr, frisch ernannter bayerischer Generalstaatskommissar, nahm Anfang Oktober mangels Unterstützung durch die Reichswehrführung in Berlin Abstand von seinen eigenen Diktaturplänen und ging auf Distanz zu Adolf Hitler, dessen Putschabsichten ihm bekannt waren und den er lange Zeit gehofft hatte, in seine Pläne einbinden zu können.

Am 4. November trat Erzbischof Faulhaber aus den Kulissen hervor und betonte in seiner Allerseelenpredigt: „Mit blindem Haß gegen Juden und Katholiken … werden keine Wunden geheilt.“ Und auch in seinem in der Presse veröffentlichten Schreiben an Reichskanzler Gustav Stresemann vom 6. November hob er hervor, dass es an der Zeit sei, „den Haß“ abzubauen, „der blindwütig über unsere israelitischen Mitbürger oder über andere Volksgruppen … den Stab bricht.“ Faulhabers Stellungnahmen zielten auf den Radikalantisemitismus der Nationalsozialisten und Völkischen (und deren Katholikenhass) ab, durften aber ebenso als deutliche Kritik an der Ausweisungspolitik des Generalstaatskommissars gegenüber den sogenannten Ostjuden verstanden werden. Dabei handelte es sich um Jüdinnen und Juden aus osteuropäischen Ländern, die verstärkt seit dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland eingewandert waren – z.T. auf der Flucht vor Pogromen in ihren Heimatländern, vielfach aber auch aus materieller Not. Außerdem sprach er sich gegen jede gewaltsame Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung aus.

Seine Aussagen brachten ihm in nationalsozialistischen und völkischen Kreisen den Ruf eines „Judenkardinals“ ein. Deren Hass steigerte sich noch, als das – unzutreffende – Gerücht aufkam, der Erzbischof sei einer der Hauptverantwortlichen für das Scheitern des gegen die Reichsregierung und damit gegen die junge Republik und Demokratie von Weimar gerichteten Hitler-Ludendorff-Putsches vom 8./9. November, dessen Ziel die Errichtung einer reichsweiten Diktatur der extremen Rechten gewesen war. Am 11. November schrieb Faulhaber nieder: „Gestern in der Universität Versammlung gegen mich, dann Zug durch die Stadt und Schreie: Nieder mit Kahr, nieder mit Faulhaber“. Stoisch vermerkte er am 14. November: „Im Keller ein paar Fenster eingeworfen. Natürlich Schmähbriefe.“ Am selben Tag informierte ihn der Franziskanerpater Heribert Holzapfel, dass im Odeon ein Redner gefordert habe: „Die erste Kugel für Kahr, die zweite Kugel für Faulhaber.“ Trotz vielfacher Bitten, er möge wegen der persönlichen Bedrohungslage München zeitweilig verlassen, verblieb Erzbischof Faulhaber in diesen kritischen Tagen in der „Hauptstadt der Bewegung“.

Das Editionsprojekt

Michael Kardinal Faulhaber hat seit seiner Zeit als Bischof von Speyer Tagebuch geführt und darin seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten festgehalten. Diese Quelle wird im Projekt „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.de veröffentlicht. Inzwischen sind die Jahrgänge 1911-1919 und 1930-1949 vollständig abrufbar. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Expertinnen und Experten entziffern können. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Dr. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München−Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden. Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der Katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.



© Institut für Zeitgeschichte
Content