„Nach dem Krieg“. Europa nach 1945 und seine Kriege
Am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) findet in Kooperation mit dem IfZ vom 9. bis 11. November 2023 ein Workshop statt, der die „Nachkriegshaftigkeit“ Europas untersucht. Der Workshop ist geplant als konzeptioneller Auftakt zur Neuausrichtung der Reihe „Moderne Europäische Geschichte“, die im Wallstein Verlag erscheint. Vorschläge können bis zum 15. Dezember 2022 eingesandt werden.
Seiner fulminanten Geschichte Europas nach 1945 gab Tony Judt im englischen Original den Titel „Postwar“, also „nach dem Krieg“ oder „Nachkrieg“. Während sich dies in der deutschen Übersetzung in eine temporale Kategorie auflöste (Geschichte nach 1945), blieb in der französischen Übersetzung „après-guerre“ bereits im Titel eine seiner zentralen Thesen sichtbar, die besagte, dass die Erfahrung des Kriegs auf dem europäischem Kontinent das Wesen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt hätte.
Das Sein nach dem Krieg, die „Nachkriegshaftigkeit“ gründete in den Erfahrungswelten der Europäer*innen. Millionen hatten in den beiden Weltkriegen extreme Gewalt erlebt, waren zu Zeug*innen oder selbst zu Täter*innen geworden. Die Zeitgenoss*innen zogen daraus sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen – abhängig von ihrer politischen oder sozioökonomischen Positionierung, nationalen Verankerung und eigenen Täter- und Opfererfahrungen. Trotz dieser Verschiedenheit zielten nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Akteur*innen auf die Überwindung der extremen Gewaltgeschichte. Sie fungierte als negative Referenz für Vorstellungen europäischer Gemeinsamkeiten, welche die Gräben in Europa zu überbrücken vermochte. Die „Nachkriegshaftigkeit“ konnte jedoch immer auch als rhetorische Figur oder als politisches Argument eingesetzt werden. In ihr verbanden sich Deutungen der nahen Vergangenheit mit gegenwärtigen Problemhorizonten. Zugleich evozierte sie Zukunftsprojektionen.
In besonderer Weise virulent wurde die Figur von Europa nach dem Krieg, wenn Europa mit Kriegen konfrontiert war – und das war öfter der Fall, als dies die medial und politisch verkürzten Narrative von der jahrzehntelangen Friedenszeit nach 1945 nahelegen. Zum einen entwickelte sich das Bewusstsein von dem Sein nach dem Krieg nach 1945 in den europäischen Gesellschaften der unmittelbaren Nachkriegszeit parallel zum Erleben einer sich rasch ausbildenden, weiteren global ausgreifenden kriegerischen Konfrontation – einem Krieg allerdings, der im Verlauf der nächsten Jahrzehnte trotz mehrfacher Erhitzung ein „Kalter Krieg“ bleiben sollte, zumindest in Europa. Zum anderen führten europäische Länder nach 1945 durchaus Kriege. „Nachkriegseuropa“ kannte eine Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen. Zu nennen sind die Dekolonisationskriege, in die unter anderem Frankreich, Portugal und das Vereinigte Königreich involviert waren. Auch nach den erkämpften Unabhängigkeiten hatte „postwar Europe“ Anteil an einer globalen postkolonialen Konstellation. Zu nennen sind weiter die Stellvertreterkriege des Kalten Krieges in Asien und Afrika, die jugoslawischen und postsowjetischen Zerfallskriege, oder aktuell der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine.
Der Workshop
Der geplante Workshop, der vom 9.–11.11.2023 am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) stattfinden wird, wird die „Nachkriegshaftigkeit“ Europas untersuchen. Dabei konzentriert er sich auf jene Debatten, die sich entfalteten, wenn Europäer*innen zwischen 1945 und der Jahrtausendwende in Kriege verwickelt waren. Wie reagierten die europäischen Deutungseliten in Politik, Medien, Zivilgesellschaft auf bewaffnete Konflikte, in die Europa – so wie sie es jeweils definierten – einbezogen war? Wie auf jene, die sie jenseits des europäischen Raums verfolgten? Berührten diese das europäische Selbstverständnis, das auf der Überzeugung von der Überwindung kriegerischer Gewalt ruhte? Wie gingen die europäischen Gesellschaften mit diesem Paradoxon um? Welche Folgen zeitigte die Maxime, kriegerische Massengewalt als Mittel der Politik zu ächten, für die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen in Ost- und Westeuropa, welche für den Prozess der europäischen Integration und welche für die Ordnungsmuster internationaler Politik? Und nicht zuletzt: Auf welche (zeit)historischen Kriege, auf welche Kriegserfahrungen bezogen sie sich, wie deuteten sie die europäische Gewaltgeschichte? Es lohnt, so meinen wir, diesen Debatten nachzugehen.
Wir bitten um die Einsendung von Beiträgen zu allen Teilen Europas, die gerne komparativ, verflechtungsgeschichtlich und globalhistorisch kontextualisierend angelegt sein können. Es interessieren Perspektiven politischer Eliten wie zivilgesellschaftlicher Akteur*innen oder Publizist*innen und Journalist*innen. Der Workshop ist geplant als konzeptioneller Auftakt zur Neuausrichtung der Reihe „Moderne Europäische Geschichte“, die im Wallstein Verlag erscheint und von Claudia Kraft, Isabella Löhr, Maren Röger und Martina Steber herausgegeben wird. Entsprechend ist eine Publikation nach der Konferenz dort geplant.
Die Hauptsprache des Workshops wird Deutsch sein, jedoch können einzelne Vorträge auf Englisch gehalten werden.
Einsendungen
Bitte senden Sie einen Titel sowie ein Abstract (ca. 300 Wörter) Ihres vorgeschlagenen Beitrags und kurze biographische Angaben bis zum 15.12.2022 an steber[at]ifz-muenchen.de oder maren.roeger[at]leibniz-gwzo.de.