Über kein anderes Thema debattieren NS-Historiker in den letzten Jahren so kontrovers wie über die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“, das zentrale gesellschaftspolitische Projekt der NS-Diktatur. Der aus einer internationalen Tagung in London 2010 hervorgegangene Sammelband „Visions of Community. Social Engineering and Private Lives“, der am 5. Mai im IfZ vorgestellt wurde, führt erstmals die Standpunkte britischer, deutscher und amerikanischer Experten zusammen.
Die beiden Herausgeber des Bandes, Bernhard Gotto und Martina Steber (beide IfZ München), erläuterten, dass der Begriff der „Volksgemeinschaft“ eine geeignete analytische Kategorie sei, um den gesellschaftspolitischen Wandel im und durch den Nationalsozialismus zu beschreiben. Er beinhalte nämlich sowohl das Element des Social Engineerings in einem herrschaftspolitischen Sinne als auch ideologische Überzeugungen und Aneignungsstrategien auf individueller Ebene. Auf diese Weise erfasse er den dynamischen Prozess nationalsozialistischer Vergesellschaftung. Hierbei sei Gewalt gegen diejenigen, die nach rassistischen, biologistischen oder politischen Logiken aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden, als ureigener Kern der nationalsozialistischen Volksgemeinschafts-Utopie zu verstehen.
Modellhaft synthetisiert machten fünf Dimensionen den „Volksgemeinschafts“-Begriff aus, wie die Herausgeber betonten. Volksgemeinschaft umfasste eine gedachte Ordnung, eine utopische Zukunftsvision, ein rassistisches In- bzw. Exklusionssystem, politische Begründungsstrategien und eine Handlungsdimension. Die Wirksamkeit des Begriffs erkläre sich dabei aus dem paradoxen Zusammenspiel von kollektivistischen Entwürfen und individuellen Identitätsangeboten.
Peter Longerich (Universität London) drückte hingegen seine Zweifel gegenüber der Tragfähigkeit des Analyse-Begriffs der „Volksgemeinschaft“ aus. Er bemängelte vor allem das Fehlen einer exakten Definition und die sich daraus ableitende Beliebigkeit des Begriffs. Darüber hinaus stelle die NS-Zeit einen zu kurzen Zeitraum dar, um gesellschaftlichen Wandel im Sinne einer klassischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zu untersuchen. „Ich denke daher, dass Volksgemeinschaft vielmehr als ein Teil der Herrschafts-, denn der Gesellschaftsgeschichte zu beschreiben ist“, so Longerich.
Moritz Föllmer (Universität Amsterdam) mahnte eine intensive Forschung zur Geschichte des Volksgemeinschafts-Begriffs im NS-Regime an, die die Wirkmächtigkeit des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten zu prüfen hätte. Die hermeneutische Kategorie der „Volksgemeinschaft“ sei so umfassend, dass sie in Gefahr stehe, an analytischer Trennschärfe zu verlieren.
In der äußerst lebhaften Diskussion wurden vor allem der Zusammenhang zwischen Herrschaft und Gesellschaft, das Zusammenspiel zwischen politischem Zwang und selbstständig-individueller Aneignung der Volksgemeinschafts-Ideologie sowie methodische Probleme einer Gesellschaftsgeschichte totalitärer Regime erörtert. Darüber hinaus wurden Perspektiven der Internationalisierung und des internationalen Vergleichs formuliert.
„Visions of Community“ mit Beiträgen führender NS-Expertinnen und -Experten wie Ian Kershaw, Christopher Browning, Jane Caplan, Michael Wildt und Ulrich Herbert ist direkt über den Verlag Oxford University Press zu beziehen.
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