Marta Hillers Nachlass über „Eine Frau in Berlin“ ist neuer Archivbestand des IfZ
Unter dem geheimnisumwitterten Pseudonym Anonyma erschien 2003 das Buch „Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945.“ Das Buch avancierte zum Bestseller, löste aber auch kontroverse Debatten um die namenlose Autorin und die historische Authentizität des Textes aus. Die bislang unzugänglichen Original-Tagebücher konnten nun vom Institut für Zeitgeschichte aufbereitet und wissenschaftlich untersucht werden. Erstmals ist es möglich, die Geschichte der Anonyma und ihres Tagebuchs umfassend nachzuzeichnen.
Anonyma beschreibt in ihren Aufzeichnungen ihre Erfahrungen im zerbombten Berlin kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Kapitulation steht bevor, die Rote Armee kämpft bereits in der Hauptstadt. Die Folgen für die Frauen sind verheerend, brutale Vergewaltigungen durch die Sieger an der Tagesordnung. Anonyma wurde bereits 2003 als die Journalistin Marta Hillers enttarnt, begleitet von Spekulationen und Mutmaßungen über den historischen Wert des Buches und die Integrität seiner Verfasserin. Marta Hillers, 1911 in Krefeld geboren, war zu diesem Zeitpunkt bereits tot, hatte aber frühzeitig verfügt, dass ihre Aufzeichnungen eines Tages der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden sollen. Für sie waren die in den Tagebüchern festgehaltenen Ereignisse „ein Mosaiksteinchen mehr für künftige Historiker“.
Im Jahr 2016 übergab Max Marek, dessen Eltern Kurt und Hannelore Marek in Marta Hillers Geheimnis eingeweiht waren, die Originaltagebücher sowie umfangreiche Korrespondenz rund um deren Veröffentlichung an das Institut für Zeitgeschichte. Dessen Archiv hat den Nachlass aufbereitet, so dass die Tagebücher nun als Bestand des IfZ für die allgemeine Forschung zur Verfügung stehen. In einem Aufsatz für die in Kürze erscheinende Juli-Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte hat die IfZ-Historikerin Yuliya von Saal die Aufzeichnungen umfassend ausgewertet: „Marta Hillers hat mit ihrem Tagebuch ein faszinierendes Zeitdokument vorgelegt und es steht außer Zweifel, dass die einzelnen Bearbeitungsstufen vom Original zum Buch aus ihrer eigenen Feder stammen.“
Die 2003 geäußerte Vermutung, Kurt Marek, der selbst ein erfolgreicher Autor war, könne als eine Art Ghostwriter eingegriffen haben, sei demnach auszuschließen. Festzustellen sei allerdings, dass Marta Hillers ihre Aufzeichnungen für die Buchform erkennbar bearbeitet habe. So seien, um die Anonymität der beschriebenen Personen zu wahren, Namen, Orte und persönliche Eigenschaften bis hin zu Hillers‘ eigener Haarfarbe verändert worden. Des Weiteren habe Hillers für die Buchfassung Fehlinformationen, die seinerzeit im umkämpften Berlin kursierten und die sie in ihren Original-Aufzeichnungen festgehalten hatte, im Nachhinein korrigiert – so beispielsweise Gerüchte um den Selbstmord Hitlers. „Das nimmt diesen Passagen aus quellenkritischer Sicht ein hohes Maß an Authentizität, wäre es doch gerade interessant gewesen, den wirren Informationsstand dieser Wochen nachzeichnen zu können.“ Hillers hat außerdem ihre knapp notierten Tagebucheinträge für die veröffentlichte Fassung an vielen Stellen ausformuliert und ergänzt. „Die reflexiven Passagen mit einem starken feministischen Akzent und Kritik an nationalsozialistischer Männlichkeit hat Marta Hillers erst später für die Buchfassung ausgearbeitet“, erklärt Yuliya von Saal. Doch auch die Originaltagebücher enthielten bereits kritische Aussagen gegenüber dem NS-Regime: „Handschriftliche Vermerke wie ‚Das alles verdanken wir dem Führer‘ oder ‚jeder rückt von Adolf ab‘ sind im Original immer wieder zu finden.“ Hinzugefügt wurden z.T. auch fiktive Elemente, mit denen die Autorin ihre Erlebnisse dramaturgisch verdichtete. „An diesen Stellen weichen Tagebuch und Buchfassung massiv voneinander ab, so zum Beispiel, wenn aus einem Zahnarzttermin ein angstbesetzter Besuch beim Gynäkologen wird, um eine ungewollte Schwangerschaft auszuschließen.“
Dennoch, so die Historikerin, stellten die Aufzeichnungen Marta Hillers und ihre literarische Verarbeitung ein wertvolles Zeitdokument dar, verfasst von einer scharfsinnigen Beobachterin: „Die historischen Ereignisse, die handelnden Personen, die sie teilweise mit einer soziologischen Präzision beschrieb, und vor allem ihr lakonischer Stil, die kühle Distanz und die grobe Sprache sind im Sinne einer zeithistorischen Collage absolut authentisch.“ Dadurch, dass die Autorin auf eigenen Wunsch ihr Material an das IfZ übertragen ließ, können derartige Fragen nun transparent nachvollzogen werden.
Am Dienstag, 25.6., stellt das IfZ die Studie von Yuliya von Saal in einer öffentlichen Veranstaltung mit Martin Doerry (Der Spiegel) und Svenja Goltermann (Universität Zürich) zur Diskussion.
Begleitend dazu zeigt das IfZ in der Ausstellung „Anonyma – Eine Frau mit vielen Gesichtern“ den Nachlass Marta Hillers und zeichnet die Entstehungsgeschichte des Buches nach. Ein umfangreiches Dossier zum Thema findet sich hier.