Lustration: Bürokratische Eigenlogik und politische Regimewechsel im 20. Jahrhundert
Ein ausdifferenziertes, eng an die politische Führung gebundenes Verwaltungssystem war zugleich Kennzeichen, Voraussetzung und Ergebnis des Ausbaus von staatlichen Regelungsansprüchen über soziale, kulturelle und ökonomische Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert. Eine loyale Beamtenschaft sorgte dafür, dass politische Steuerungsimpulse bis in die unteren Ebenen der solchermaßen durchherrschten Territorien durchdrangen. In Deutschland und Österreich war dieser Staatsdienst als ein besonderes Treueverhältnis konstruiert, das die Übereinstimmung der Beamten mit Zielen und Werthaltungen der Staatsführung implizierte. Nach politischen Regimewechseln wie 1918/19, 1933/38 und 1945 – zu denken ist auch an die Demokratisierungen in Portugal und Spanien in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und an Ostmitteleuropa ab 1989/90 – wurden die Verwaltungen „Säuberungsprozeduren“ unterzogen, deren Ziel es war, den Staatsapparat konform zum neuen politischen System auszurichten. Das inkludierte im Nationalsozialismus auch die „rassische“ Geeignetheit der öffentlich Bediensteten und deren Ehepartnern und -partnerinnen.
Diese „Lustrationen“ – hier verwendet als Überbegriff für die Entfernung von öffentlich Bediensteten aus ihren Positionen im Zusammenhang mit politischen Regimewechseln – stehen im Zentrum des Workshops. Unser Ziel ist es, vor dem Hintergrund des anhaltenden Booms von Forschungen über den Umgang bundesdeutscher Zentralbehörden mit der NS-Vergangenheit neue Einsichten in die Adaptionsmechanismen administrativer Apparate auf politische Steuerungsimpulse zu erhalten. Die ältere Forschung hat in erster Linie nach der individuellen Disposition und Motivation von Beamten gefragt, um zu erklären, wie rasch die Verwaltungen sich auf ein neues Regime einstellen konnten. Phänomene wie Selbstgleichschaltung nach 1933, Selbstviktimisierung und Persilscheinkartelle nach 1945 setzen auf dieser Ebene an. In dieser Perspektive wird, um beim bundesdeutschen Beispiel zu bleiben, die „Entnazifizierung“ als der gescheiterte Versuch angesehen, eine nachhaltige Demokratisierung der Verwaltung durch eine „Lustration“ zu erreichen. Für die auf Österreich bezogene Forschung kann ein solcher Boom aktuell nicht konstatiert werden, wiewohl es seit Dieter Stiefels grundlegenden Forschungen zur Entnazifizierung immer wieder Initiativen gab, insbesondere aus regionalgeschichtlich-vergleichender Perspektive und mit Fokus auf Verwaltungseliten.
Mittlerweile wird die Überprüfung des öffentlichen Dienstes im Rahmen von postdiktatorischen vergangenheitspolitischen Aufarbeitungsprozessen als ein Teilgebiet der „transitional justice“ analysiert. Hinsichtlich der Praktiken und Instrumente lassen sich einige Ähnlichkeiten mit den umgekehrten Prozessen feststellen, also personalpolitischen Eingriffen in die Verwaltung, die frisch etablierte diktatorische Regime implementierten. In diesen Rahmen bettet sich der Workshop ein. Dabei rücken die Effekte in den Blick, welche die Lustrationen auf das verbliebene Personal hatten. Versteht man „Lustrationen“ als Teil eines längerfristigen Prozesses, dann erscheint die oftmals konstatierte hohe personelle Kontinuität im administrativen Führungspersonal nach Regimewechseln in einem neuen Licht. Denn die vermeintlich „alten Eliten“ sind dann nicht nur als „politisch Belastete“ bzw. als Hemmschuh eines Wandels anzusehen, sondern auch als aktive Mitgestalter von administrativen Anpassungsprozessen an neue Rahmenbedingungen.
Die bürokratische Eigenlogik solcher Anpassungsleitungen bildet einen Schwerpunkt des Workshops: Statt „Säuberungen“ als eindimensionalen Eingriff „der Politik“ auf „die Verwaltung“ zu verstehen, fragen wir nach der Wechselwirkung zwischen Lustrationen und Verwaltungspraxis. Dies gilt zum einen für den Prozess der Säuberung selbst, deren Formen, Prozeduren und Logiken auch den Selbstbildern und Bedürfnissen der Verwaltungen entsprangen. Welchen Einfluss nahmen Verwaltungsapparate auf die Lustrationen, und mit welchen Strategien brachten sie diese Anforderungen mit genuin administrativen Notwendigkeiten in Einklang? Zum anderen sind mittel- und langfristige Effekte der Lustrationen auf die Verwaltungskultur von Interesse. In diesem Sinne sollen Verwaltungen als „lernende und verlernende Organisationen“ (Wolfgang Seibel) verstanden werden. Wie wandelten sich unter dem Einfluss der Lustrationen die von administrativen Apparaten angewandten Routinen und Anforderungen, um die Systemloyalität ihrer Angehörigen zu gewährleisten? Welche Konformitätsleistungen verstetigten sich, welche erwiesen sich als ephemeres Zugeständnis? Auf welche Weise „vergaßen“ Bürokratien Prozeduren und Routinen, die als inkompatibel mit den neuen politischen Rahmenbedingungen angesehen wurden?
Ausdrücklich laden wir dazu ein, symbolische und materielle Ausprägungen von Lustrationen zu thematisieren. Dadurch lässt sich der Blick auf Anpassungsleistungen über personelle Konsequenzen und formalisierte Verfahren hinaus weiten. Eine materielle Perspektive könnte etwa den Umgang mit Hoheitszeichen, Arbeitshilfen und Verfahren ansprechen. In symbolischer Hinsicht rücken Veränderungen bei Verwaltungspraxen in den Blick, die auf das Verhältnis der Verwaltungen und ihrer Angehörigen zum politischen System abzielten: Welche Routinen, welche Prozesse wandelten sich infolge eines Regimewechsels? Wie wandelten sich Formen der Repräsentation, die sich etwa in der Ausstattung von Gebäuden, in Uniformen, im Auftreten von höheren Beamten niederschlugen?
Wir ersuchen um die Zusendung von Abstracts (ca. 5000 Zeichen inkl. Leerzeichen) und einer Kurzbiographie bis zum 31. Juli 2020 an therese.garstenauer[at]univie.ac.at. Die Tagung findet am 24. und 25. September 2020 an der Universität Wien statt und wird von Therese Garstenauer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien) und Bernhard Gotto (Institut für Zeitgeschichte München–Berlin) organisiert. Reise- und Übernachtungskosten für die Vortragenden werden übernommen.
Der CfP ist auch als PDF verfügbar.