Im nächsten Jahr hätte der israelische Historiker Avraham Barkai seinen 100. Geburtstag gefeiert, nun ist er 29.2.2020 in seinem Kibbuz Lehavoth Habashan im Norden Israels verstorben. Ein Jahrhundert-Wissenschaftler ist „Abi“, wie ihn seine deutschen Freunde nannten, dennoch gewesen. Einzigartig an ihm war vor allem, dass er zahlreiche herausragende wissenschaftliche Werke verfasste, ohne jemals als Wissenschaftler an einer Universität oder einem Forschungsinstitut beschäftigt gewesen zu sein.
1921 im Berliner Scheunenviertel in einem religiös-orthodoxen Elternhaus aufgewachsen, wurde er vom nationalsozialistischen Deutschland ausgewiesen und emigrierte 1938 nach Palästina, wo er als Angehöriger der linkssozialistischen Bewegung Haschomer Hatzair den Kibbuz Lehavoth Habashan am Fuße der Golan-Höhen aufbaute. Zeit seines Lebens hielt er „seinem“ Kibbuz die Treue, der sich umgekehrt rührend um ihn kümmerte und ihm eine Schreib- und Studierstube einrichtete, an der außen scherzhaft das Schild „The Barkai Institute“ prangte.
Anfang der 1960er Jahre hatte Barkai nämlich mit dem Studium der Volkswirtschaft und Geschichte an der Hebrew University begonnen und verfasste dann in den 1970er Jahren eine bahnbrechende Promotion über das nationalsozialistische Wirtschaftssystem. Seine zahlreichen Werke zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur jüdischen Geschichte und insbesondere zur deutsch-jüdischen Geschichte erfuhren zu Recht höchste Anerkennung. Neben seiner Promotion verdienen vor allem zwei Monographien besondere Erwähnung. Seine Studie „Vom Boykott zur Entjudung“, 1988 im S. Fischer Verlag erschienen, war eine Pionierstudie zur „Arisierung“ in Deutschland, die als erster aus der Perspektive der jüdischen Opfer beleuchtete. Auch seine grundlegende Studie über den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (veröffentlicht 2002 bei C.H. Beck) war ein Meilenstein der Forschung und schilderte den Einsatz dieser Organisation für die deutsch-jüdischen Interessen mit einer insofern bemerkenswerten Fairness, als Barkai als junger Zionist dem Centralverein mehr als distanziert gegenübergestanden hatte.
Obwohl Avraham Barkai biographisch allen Grund gehabt hätte, deutschen Wissenschaftlern skeptisch bis ablehnend gegenüberzustehen, war das Gegenteil der Fall. Er selbst suchte seit den 1970er Jahren intensiven Kontakt mit ihnen, und vor allem für jüngere deutsche Kolleginnen und Kollegen war ein stets aufmerksamer, liebenswürdiger und hilfsbereiter Mentor und Gesprächspartner. Als ich 1997 zum ersten Mal zu einer Konferenz in Yad Vashem eingeladen wurde, verdankte ich diese Einladung vor allem ihm. Viele seiner deutschen Freunde besuchten ihn in seinem Kibbuz und erinnern sich bis heute dankbar an seine Gastfreundschaft und anregende Gespräche.
R.I.P., lieber Abi, Dein Werk wird noch lange Bestand haben, und wir werden Dich nicht vergessen.
Frank Bajohr