Historiker veröffentlichen Kardinal Faulhabers Tagebücher im Internet
München/Münster (15. 10. 2013). Die Tagebücher des 1952 verstorbenen Münchener Erzbischofs Michael Kardinal von Faulhaber werden wissenschaftlich bearbeitet und für jedermann zugänglich im Internet veröffentlicht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft bewilligte dafür ein auf zwölf Jahre angelegtes Langfristvorhaben. Der Historiker Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, und der Münsteraner Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf stellten ihr gemeinsames Projekt am Dienstag in München der Öffentlichkeit vor.
Faulhaber war nach den Worten von Hubert Wolf ein herausragender Theologe, ein meinungsfreudiger Vordenker des politischen Katholizismus und ein Streiter für kirchliche Interessen. „Sein Einfluss reichte weit über die Grenzen Deutschlands und der katholischen Kirche hinaus, und seine privaten Aufzeichnungen erlauben einen spannenden Blick hinter die Kulissen von Religion und Politik.“ Faulhaber sei eng mit Papst Pius XII. befreundet gewesen, habe aber auch mit Adolf Hitler, Theodore Roosevelt und Konrad Adenauer verhandelt. „Schon zu Lebzeiten haben ihn viele Kirchenmitglieder hoch verehrt. Zugleich ist er wegen seines widersprüchlichen Verhaltens während der Zeit des Nationalsozialismus heftig umstritten.“
Kurzschrift-Experten sollen umfangreiche Archivbestände für die Wissenschaft nutzbar machen
Wirsching und Wolf arbeiten für die geplante Edition eng mit dem Erzbischöflichen Archiv München zusammen, das die Tagebücher verwahrt. Ihr Vorhaben soll auch dazu beitragen, wichtige Bestände in zahlreichen Archiven für die Forschung zugänglich zu machen. „Faulhaber schrieb überwiegend in der ehemals weitverbreiteten Kurzschrift Gabelsberger, die heute kaum noch jemand entziffern kann. Unser Projekt umfasst deswegen Schulungen, sodass es auch in Zukunft Experten für diese Schrift geben wird“, erläuterte Wirsching.
„Dass Faulhabers Tagebücher für die Jahre von 1911 bis 1952 lückenlos überliefert und seit April 2012 der Forschung zugänglich sind, ist ein absoluter Glücksfall“, betonte der Frankfurter Historiker Prof. Dr. Christoph Cornelißen. Er vertrat bei der Projektvorstellung die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren Senat und Hauptausschuss er angehört. Die historische Grundlagenforschung, die wichtige Quellen für andere zugänglich macht, ist nach seinen Worten „heute wichtiger denn je“. Wirsching und Wolf planen, schon während der Laufzeit des Projekts eng mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zusammenzuarbeiten.
Einblick in Gefühle und Handlungsmotive
Die Tagebücher des Kardinals lassen Andreas Wirsching zufolge Emotionen und Handlungsmotive erkennen, die anhand der bisher bekannten Quellen kaum zu beschreiben waren. „Faulhaber, sozialisiert im katholischen Milieu des Kaiserreichs und überzeugter Monarchist, steht dabei in vielem repräsentativ für breite Strömungen im Katholizismus.“ Der Kardinal sei ein „aufmerksamer Beobachter und Deuter in einer Zeit voller Umbrüche“ gewesen. Die zahlreichen Gesprächspartner, die er Tag für Tag empfing, stammten aus allen Gesellschaftsschichten. Die Edition wird laut Wirsching für viele grundlegende Fragen der deutschen und europäischen Geschichte aufschlussreich sein. „Es geht um die Rolle der Katholiken in den beiden Weltkriegen, der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus, und der Nachkriegszeit, aber beispielsweise auch um ihren Beitrag zur europäischen Einigung.“
„Viele Fragen, vor denen Faulhaber stand, sind heute noch aktuell und zentral für das Selbstverständnis der Katholiken“, betonte auch Wolf. Das Projekt ermöglicht nach seinen Worten außerdem neuartige Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Geschlechterrollen und popkulturelle Entwicklungen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften. „Weil die katholische Kirche ein Global Player ist und Faulhaber ausgezeichnete Kontakte ins Ausland hatte, ergeben sich auch viele Möglichkeiten, die Themen der Tagebücher international vergleichend zu behandeln“, so Wolf.
30.000 Textseiten zu 15.000 Tagen
Faulhabers eigentliches Tagebuch umfasst 32 Bände im Notizbuchformat. Die Einträge sind zumeist knapp gehalten. „Aber wenn er über wichtigere Themen und Gespräche nachdachte, fertigte Faulhaber ausführliche Beiblätter an“, erläuterte Wirsching. Tagebücher und Beiblätter sollen vollständig erfasst, historisch-kritisch ediert, kommentiert und in einer Online-Datenbank publiziert werden. Die Projektleiter rechnen damit, dass die Edition umgerechnet 30.000 Textseiten umfassen wird. „Wir erhalten damit ein ausgesprochen detailreiches Bild der knapp 15.000 Tage, die der von den Tagebüchern erfasste Zeitraum umfasst“, so Wirsching. Die Online-Edition biete dabei zahlreiche Vorteile gegenüber dem gedruckten Buch, von der Volltextsuche über die Verknüpfung mit anderen Datenbanken bis hin zu interaktiven Kommentarfunktionen.
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umfangreiches Bildmaterial unter:
http://www.uni-muenster.de/FB2/mnkg/service/index.html