Kleine Geschichte des Archivs und seiner Bestände

Die Währungsreform füllte 1949 die Schaufenster mit Lebensmitteln und Konsumgütern und beendete schlagartig die Mangelwirtschaft. Nur für die Historiker, die bereitstanden, im neugegründeten Institut für Zeitgeschichte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu erklären, dauerte der Mangel weiter fort. Die historischen Dokumente, die dazu notwendig waren, befanden sich entweder in der Hand der Besatzungsmächte oder waren durch Kriegseinwirkung weit zerstreut, im schlimmsten Fall sogar vernichtet. Der Auftrag, Quellen zur Zeitgeschichte zu sammeln, aufzubereiten und zugänglich zu machen, war zu diesem Zeitpunkt schwierig durchzuführen.


Damit die Forschungsabteilung ihrem Auftrag gerecht werden konnte, bemühten sich die Archivare des Instituts zunächst vor allem darum, Ersatzüberlieferungen zu beschaffen. Bereits im Mai 1949 hatten die Amerikaner Protokolle der Nürnberger Prozesse zur Verfügung gestellt, die in den folgenden Jahren weitgehend vervollständigt und durch die Abschriften der Beweisdokumente ergänzt werden konnten. Spruchkammerakten und die Umdrucke von Anklage- und Urteilsschriften gegen NS-Täter aus westdeutschen Justizregistraturen wurden zu einem weiteren zentralen Bestand. Dass der Großteil der Originalakten für deutsche Forscherinnen und Forscher noch viele Jahre unzugänglich blieb, machte aus dem zusammengetragenen Material nicht nur eine Arbeitssammlung für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Institut. Die Erschließung der Dokumente durch ausführliche Inhaltsangaben, die in ihrer Tiefe und Genauigkeit klassische archivische Findhilfsmittel übertrafen, zog bald auch auswärtige Benutzer ins Institutsarchiv, darunter nicht nur Historiker, sondern auch Ermittlungsrichter und Staatsanwälte, die nach Belegen für nationalsozialistische Verbrechen suchten. Frühe Überlegungen, das Archiv des Instituts zum zentralen Sonderarchiv für die Überlieferungen der NS-Zeit auszubauen, wurden nach Gründung des Bundesarchivs aber nicht weiter verfolgt. Dadurch ergab sich, dass sich das Institutsarchiv auf das Sammeln von Quellen privater Herkunft, auf gedrucktes oder vervielfältigtes Schriftgut und auf amtliche Akten in Abschriften und fotografischer Reproduktion beschränkte.


Vernehmungen, Zeugenaussagen und eidesstattlichen Erklärungen aus den Nürnberger Prozessmaterialien wurden zusammen mit Interviewprotokollen und Befragungskorrespondenzen, die Institutsmitarbeiter für eigene Forschungszwecke angelegt hatten, unter dem Begriff "Zeugenschrifttum" zusammengefasst und einheitlich bearbeitet. Sehr früh gelangten auch umfangreiche Befragungsergebnisse anderer Forscher ins Institutsarchiv. Die einzelnen Teile dieses Bestandes sind in ihrem jeweiligen Quellenwert zwar kritisch zu betrachten, ihre Bedeutung liegt aber darin, dass diese Aussagen und Stellungnahmen in vielen Fällen zu Einzelheiten Auskunft geben, die in den amtlichen Akten nicht überliefert sind. Bis auf wenige Stücke, die noch einer Schutz- oder Sperrfrist unterliegen, kann diese Bestandsgruppe seit Ende des Jahres 2010 von Forscherinnen und Forschern jederzeit weltweit in digitalisierter Form über das Internet ausgewertet werden.


Manche Privatpersonen oder deren Erben besaßen Akten aus der Tätigkeit für Partei, Wehrmacht oder Ministerien aus der Zeit der Weimarer Republik oder des Dritten Reiches, wollten die Originale aus den verschiedensten Gründen jedoch nicht herausgeben. Konnte man sie dazu bewegen, Kopien zuzulassen, so konnten diese mit einer IfZ-Signatur in der Forschung als Originaläquivalent zitiert werden. Ebenso behandelte man schwer zu beschaffende Dokumentenkopien aus Osteuropa, die Staatsanwälten und Richtern in den NSG-Verfahren als Beweismittel dienten. Sporadisch an das Archiv abgegebene und aktiv eingeworbene Originalunterlagen bildeten die Grundlagen der Bestandsgruppe „Sammlungen und Nachlässe“. Einer systematischen Erwerbungspolitik waren damals jedoch noch Grenzen gesetzt, denn die meisten Akteure der Weimarer Republik und der NS-Zeit erreichten erst in den Siebzigerjahren ein für den Nachlassfall oder die Abgabe ihrer Dokumente angemessenes Alter.


Die 1956 begonnene Verfilmung des beschlagnahmten und in die USA transportierten Schriftguts von Behörden und Dienststellen des Dritten Reiches durch die National Archives in Washington ermöglichte es, erstmals größere Mengen an Schriftquellen zu bestimmten Themenbereichen für die Forschungsabteilung gezielt anzuschaffen, sie aber auch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in Europa zur Verfügung zu stellen. Auch nach der nahezu vollständigen Rückführung der Originale aus den USA in deutsche Archive erfreut sich diese Sekundärüberlieferung wohl vor allem wegen der tiefen Inhaltserschließung immer noch nahezu ungebrochener Beliebtheit. Mit der Verlagerung des Forschungsinteresses auf die unmittelbare Nachkriegszeit wurde offensichtlich, dass ohne Auswertung der Akten der alliierten Besatzungsverwaltungen wissenschaftlich fundierte Forschung nicht möglich war. Nach archivfachlicher Bewertung wurde bis 1981 etwa ein Drittel der Akten des "Office of Military Government for Germany, U.S." (OMGUS) in einem federführend vom Bundesarchiv und dem Institut für Zeitgeschichte durchgeführten Projekt in den USA verfilmt. Der Bestand der OMGUS-Zentralbehörden wurde erstmals in einer elektronischen Datenbank verzeichnet. Zunächst standen ein Schlagwort- und Personenkatalog in gedruckter Form zur Verfügung; an der inzwischen im Internet zugänglichen, auf moderne Systeme migrierten Datenbank sind detaillierte Recherchen in den Regesten möglich. Mit der Verzeichnung und Verfichung dieser Akten erreichte die systematische Schaffung von Zweitüberlieferungen ihren Höhepunkt. Auf der Basis all dieser Kopien entstanden grundlegende Werke sowohl hauseigener als auch externer Zeitgeschichtsforschung.


Die eigentlich aus der Not geborene Umkehrung des traditionellen Prinzips „der Historiker geht zu den Quellen“ zum Prinzip „die Quellen kommen zum Historiker“ wurde eine liebe Gewohnheit der Forscher des Hauses, aber auch die internationale Benutzerklientel lernte das Angebot zu schätzen. Schon der erste Archivleiter erkannte, dass diese Arbeitsweise auf Dauer an ihre Grenzen stoßen musste. Weiterhin Aktenüberlieferungen in den zuständigen deutschen Archiven zu vervielfältigen und im Institut für Zeitgeschichte als Parallelbestände für den Bedarf der Forschungsabteilung zu beschaffen und inhaltlich zu erschließen, schien wenig sinnvoll und überstieg auf Dauer die Kapazitäten des Institutsarchivs. Die Archivleitung stellte schon früh strategische Überlegungen zur langfristigen Existenzsicherung des Archivs an, die zunächst zum systematischen Aufbau der Druckschriftensammlung führten, die gedrucktes Schriftgut aus der Zeit der Weimarer Republik bis in die damalige Gegenwart staatlicher Institutionen aller Art, Parteitagsprotokolle sowie Pressediensten der Parteien und Gewerkschaften enthielt und durch eine Zeitungsausschnitt- und Zeitungssammlung ergänzt wurde.


Das gemeinsame Projekt Dokumentation zur Emigration zwischen 1939 und 1945, zu dem sich 1969 Bundesarchiv und Institut unter Beteiligung der Friedrich-Ebert-Stiftung, des DGB-Archivs und der Deutschen Bibliothek zusammengetan hatten, eröffnete dem Archiv eine neue Perspektive, seine Aufgabe zur Sicherung und Erschließung von Quellen zu erfüllen. Ende der Siebziger Jahre ergriff der neue Archivleiter die Chance, mit originären Beständen, die nicht automatisch den Weg in staatliche oder andere Archive gefunden hätten, der archivalischen Sammlung ein neues und unverwechselbares Gesicht zu geben. In der Mehrheit befanden sich die Überlieferungen zum politischen Exil damals im Privatbesitz ehemaliger Emigranten und ihrer Nachkommen. Mit den wertvollen privaten Abgaben aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren wuchs die Bestandsgruppe Sammlungen und Nachlässe innerhalb weniger Jahre stark an. Viele der Nachlassgeber hatten nach der Rückkehr aus dem Exil Anschluss an die politischen, administrativen und kulturellen Eliten der Bundesrepublik gefunden oder waren Teil informeller Netzwerke geworden. Ihre Erfahrungen mit der forschungsnahen Erschließung ihrer Papiere in einem weitgehend staatsfreien und parteiunabhängigen Institut trugen dazu bei, dass in steigender Zahl Persönlichkeiten, bald weit über den Kreis der Emigranten hinaus, privates Schriftgut und Akten von Parteien, Verbänden und Zirkeln, denen sie angehört hatten, dem Institut übergaben. Zu einem Schwerpunkt mit inzwischen umfangreichen Beständen entwickelten sich dabei die Sozialen- und Protestbewegungen wie Studenten-, Friedens- und Neue Frauenbewegung. Die mittlerweile über 500 größeren Sammlungen bilden heute das Rückgrat der Archivbestände. Das Quellenangebot konnte nun zwar nur noch partiell den Forschungsvorhaben des Hauses dienlich sein, mit der Diversifizierung und dem Originalcharakter seiner Sammlungen gewann das Archiv andererseits dauerhafte Attraktivität für externe Forscherinnen und Forscher. Zusammen mit dem spezialisierten Bestand der Bibliothek ist der öffentlich nutzbare Forschungsbereich ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal der gesamten außeruniversitären Forschungseinrichtung geworden.


Die Historiografie der Zeitgeschichte als Teil der Vergangenheitsbewältigung und damit der Identitätsfindung der jungen Nachkriegsdemokratie in Westdeutschland rückte nach 1989 immer mehr in das Interesse der Forschung. Nach Bewertung und Verzeichnung großer Teile der eigenen Altregistraturen ist das Hausarchiv seit 2002 auf Antrag zugänglich. Die Bestände werden laufend ergänzt, der Zeitraum von der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte bis etwa Mitte der siebziger Jahre kann inzwischen schon dicht rekonstruiert werden.


Die forschungsbezogene archivische Tätigkeit des Instituts für Zeitgeschichte unterscheidet sich von den staatlichen Archiven immer noch vor allem dadurch, dass dessen Bestände intensiver und nicht nur nach Provenienzgesichtspunkten, sondern auch sachthematisch erschlossen werden. Sie wurden durch Findbücher aber auch durch eine sachthematisch und nach Personenbetreffen geordnete bestandsübergreifende Kartei mit rund 250.000 Karten erschlossen, die auf Fragestellungen der Forschung ausgerichtet waren. Seit Ende 1997 wurde intern Archivsoftware zur Erschließung eingesetzt, 2009 wurde die Digitalisierung des Kartenkataloges abgeschlossen.


Seit Beginn des neuen Jahrhunderts drängte sich durch die Feststellung von säurebedingten Alterungsschäden wertvoller Unterlagen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit die Bestandserhaltung als Aufgabe des Archivs in den Vordergrund. Zunächst beginnend mit der Beschaffung geeigneter Verpackungsmaterialien wurde eine kombinierte Routine von Kopienerstellung und Entsäuerung entwickelt. Bei Kopierwünschen wird das Archivale digitalisiert, gespeichert und die gewünschten Kopien in Rechnung gestellt und versandt. Die digitalisierten Archivalien werden dann regelmäßig einem Dienstleister zur Entsäuerung übergeben und nach der Behandlung in säurefreie Verpackungen umgebettet. In der Regel werden diese Originale an weitere Benutzer nur noch als Digitalisat ausgegeben. Das Original wird so bestmöglich geschont und langfristig gesichert.


Mitte 2012 hat das Archiv sein Sammlungsprofil schriftlich fixiert und veröffentlicht. Dabei orientiert es sich wieder stärker an den inhaltlichen Schwerpunkten der Forschungsfelder des Gesamtinstituts. Im Zuge des „Sammelns im Verbund“ des Arbeitskreises der Archive der WGL dienen die Sammlungsprofile zur Abgrenzung der Interessengebiete, auch um historisch wertvolles Material, das dem eigenen Sammlungsziel nicht entspricht, an andere zu vermitteln.


Die Nutzerinnen und Nutzer des Archivs haben vielfältige Interessen und Anliegen. Neben jeweils weiblichen und männlichen Berufshistorikern, universitären Prüfungskandidaten und Studenten sind es unter anderem Heimat- und Familienforscher, Justiz- und Entschädigungsbehörden, Buchautoren, auch Film-, Fernseh-, Presse- und Ausstellungsmacher aus dem In- und Ausland, die in den Sammlungen wesentliches für ihre Vorhaben vermuten und bei ihren Recherchen zu Themen der Politik-, Gesellschafts-, Institutionen-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte von 1917 bis zur Gegenwart offenbar auch fündig werden. Die von Anfang an gegebene Möglichkeit, die Bestände einer der führenden Spezialbibliotheken und die Quellen auf demselben Schreibtisch ausbreiten zu können hat inzwischen Nachahmer gefunden. Die Begegnung externer Forscherinnen und Forscher und ihrer Projekte mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Instituts hat zu gegenseitiger Befruchtung und zur Zusammenarbeit geführt.


Klaus A. Lankheit


Juli 2013 auf der Grundlage des Aufsatzes „ Das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte“ von Werner Röder, Hermann Weiß und Klaus A. Lankheit, in: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz. Hrsg. von Horst Möller und Udo Wengst, München 1999, S. 105-125, erstellt und fortgeschrieben.