Das Kanzleramt
Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit

Das Bundeskanzleramt war bereits in der frühen Bundesrepublik die Schaltzentrale, von der aus steuernd, planend und koordinierend auf alle Bereiche des Regierungshandelns eingewirkt werden konnte. Dies galt für die Personalpolitik ebenso wie für die Informationsflüsse und die Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus erstreckten sich die Einflussmöglichkeiten des Kanzleramts auf die Koalitionsparteien und ihre Bundestagsfraktionen sowie auf Institutionen im vorpolitischen Feld, die in die Gesellschaft hineinwirkten und der Regierungszentrale gleichzeitig als Informationsquelle dienten.

Kooperationsprojekt mit dem ZZF
Das Institut für Zeitgeschichte hat gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam seit 2018 die Rolle des Bundeskanzleramts im Spannungsfeld von demokratischem Neubeginn und NS-Vergangenheit untersucht. Das Forschungsvorhaben von IfZ und ZZF wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert und bestand im Kern aus vier Teilprojekten. Während am ZZF der Umgang mit der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen in der Vergangenheits- und Geschichtspolitik des Kanzleramts und des Bundespresseamts analysiert wurden, entstanden am IfZ zwei Studien über die Kontinuitäten und Neuanfänge in der Personalentwicklung und Personalpolitik der Behörde (Bearbeiter: Gunnar Take) sowie über die Prägungen, Überzeugungen und Politikstile ihres Spitzenpersonals (Bearbeiterin: Nadine Freund). Das Erkenntnisziel der vier aufeinander bezogenen, aber inhaltlich eigenständigen Projekte richtete sich über das Bundeskanzleramt hinaus auf die Entwicklung der Demokratie und des Regierungssystems in der Bundesrepublik insgesamt. Der zeitliche Rahmen spannt sich von biografischen Fallbeispielen seit dem späten Kaiserreich über den Beginn der Bundesrepublik bis in die Zeit der sozialliberalen Koalition nach 1969.
Ein Lehrstück über den ambivalenten Umgang mit der NS-Vergangenheit
Nun liegen die Ergebnisse des Forschungsprojekts in einem Referenzband vor, der alle vier Einzelstudien vereint. Die Publikation liefert Antworten auf die bislang offene Frage, wie sich das Kanzleramt im Spannungsfeld von Demokratie und NS-Vergangenheit bewegte. Die Studien bestätigen eindringlich, dass die Überwindung autoritärer Strukturen des Regierens, Verwaltens und öffentlichen Kommunizierens ebenso wie der Wechsel auf ein nicht NS-belastetes Personal in der zentralen bundesdeutschen Steuerungsbehörde ein langwieriger Prozess war, der sich über Jahrzehnte hinzog und keineswegs linear verlief. Gemessen am Anspruch, eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu sein, waren das Bundeskanzleramt und das Bundespresseamt ebenso Teil des Problems wie seiner Lösung. Gerade in der Ära Konrad Adenauers und Hans Globkes überwogen eindeutig die Blockaden gegenüber der Bereitschaft zu Veränderung, Reform und Öffnung. Damit steht umso nachdrücklicher die in der Forschung seit langem aufgeworfene Frage im Raum, wie sich angesichts dieser Voraussetzungen im zweiten Anlauf die mittlerweile über 75 Jahre währende Stabilität einer demokratischen Ordnung herausbilden konnte. Einerseits erschwerten zweifellos die NS-Vergangenheit und der ambivalente Umgang mit ihr den Neustart. Andererseits lässt sich darüber diskutieren, ob es nicht gerade die aus heutiger Sicht so fragwürdigen Demokratievorstellungen und ihre Vermittlung durch Personen mit signifikanter NS-Vergangenheit zusammen mit Adenauers autoritärem Führungsstil und seinem virulenten Antikommunismus waren, die es einer durch Diktatur und Krieg geprägten Bevölkerung erleichterten, sich auf die zweite deutsche Demokratie einzulassen.

Das Projekt wurde auf Seiten des IfZ von Johannes Hürter und Thomas Raithel geleitet. In der seit einigen Jahren intensiv geführten Auseinandersetzung über den Umgang von zentralen Bundesbehörden mit der NS-Vergangenheit schließt die Untersuchung des Kanzleramts ein wichtiges Desiderat der NS-bezogenen Behördenforschung.
Publikation

Jutta Braun, Nadine Freund, Christian Mentel, Gunnar Take
Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit
Göttingen 2025
ISBN: 978-3-8353-5598-9
Bildnachweis:
- Titelbild: Das Palais Schaumburg, Sitz des Bundeskanzleramts, 1950 / BArch, B 145 Bild-P001503 / Arntz, Burow
- Bild 1: KAS-Lenz, Otto-Bild-1860-2, via Wikimedia Commons
- Bild 2: Bundesregierung / Egon Steiner
- Bild 3: Das IfZ-Team vor dem Berliner Kanzleramt / Christian Mentel