Tagungstelegramm: Abweichung vom Westen?
Die Geschichte des deutschen Nationalstaats von 1871 ist Teil der Geschichte Europas und doch ist sie spezifisch. Die meisten ihrer problematischen Entwicklungselemente wie Antiliberalismus, Rassismus und Militarismus findet man für sich genommen auch bei den europäischen Nachbarländern; doch ihre Verbindung war singulär und gebar Unheil. In seinem Vortrag am 7. Dezember im Institut für Zeitgeschichte in München untersuchte Andreas Wirsching, Direktor des IfZ, Deutschlands Weg in die Moderne unter den Gesichtspunkten von Kontingenz und Singularität. Auch nach dem Ende der sogenannten "Sonderwegsdebatte" bleibe umstritten, inwieweit die deutsche Geschichte von dem Modell einer westlichen Norm abwich und wie weit dies half, die nationalsozialistische Diktatur zu ermöglichen.
Wirsching nahm dabei insbesondere die kulturellen Besonderheiten der deutschen Geschichte in den Blick: die Bikonfessionalität des Landes, die lange währende Nicht-Identität von Staat und Nation, die spezifische Wahrnehmung der Zeit einer als "verspäteten Nation" empfundenen Gesellschaft und der Verlust des Ersten Weltkriegs als Katastrophenerfahrung. Wirschings Vortrag war Teil eines wissenschaftlichen Workshops mit dem Titel "Nation, Kultur und Zivilisation: Der internationale Diskurs über 'den Westen' an der Jahrhundertwende (1880-1930)", einer Kooperation mit der University of St. Andrews.